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Anthropologe: Religion ist nur eingebildet  
  Wie Religionen entstanden sind, beschäftigt nicht nur Theologen, sondern auch manche Naturwissenschaftler. Ein englischer Anthropologe ist der Ansicht, dass Gott ein Evolutionsprodukt unserer Einbildungskraft sei.  
Der Gott, der aus der Steinzeit kam
Es geschah vor etwa 40.000 bis 50.000 Jahren in der Steinzeit. In diesem Zeitraum könnten laut dem Anthropologen Maurice Bloch von der London School of Economics beim Menschen zum ersten Mal Vorstellungsvermögen und Einbildungskraft aufgetaucht sein. Die Evolution half dem Homo sapiens nicht nur, die Umwelt zu beherrschen, er begann auch an Geister und ein Leben nach dem Tod zu glauben.

Dies zeigt sich laut Bloch auch im Auftreten von Kunst in der Höhlenmalerei, der verfeinerten Gestaltung von Werkzeugen, die sich seit tausenden von Jahren nicht mehr verändert hatten, und der Geschenkbeigabe für Tote, die auf den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod hinweist.
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Der Artikel "Why religion is nothing special but is central" (DOI: 10.1098/rstb.2008.0007) von Maurice Bloch ist vor kurzem in den "Philosophical Transactions der Royal Society" erschienen.
->   Abstract zur Studie
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Erfundene Rollen
Sich nicht existierende Welten und Personen vorstellen zu können, ist laut Bloch entscheidend dafür, dass Religionen entstehen. Dies unterscheide den Menschen von allen anderen Lebewesen. Von der Vorstellung geschaffen werden auch soziale Strukturen und Rollen. Während diese auch bei anderen Lebewesen, etwa den dem Menschen verwandten Schimpansen, vorkommen, findet man nur beim Menschen einen bestimmten Typ sozialer Strukturen.

Wir schaffen nicht nur Rollen, die, wie bei den Tieren, vom Handeln des Einzelnen abhängen. Der Mensch kann darüber hinaus soziale Rollen entstehen lassen, denen sich der Einzelne anpassen muss. Die Rollen und Positionen verselbständigen sich und bekommen ein Eigenleben, während die Funktionsträger ausgetauscht werden können.
Transzendent sozial
Die soziale Rolle des Einzelnen hängt nicht allein von seinen Taten oder seiner Stärke ab, sondern von einer bestimmten Funktion - zum Beispiel der Dorfälteste zu sein. Diesem wird auch dann noch Respekt von den Gruppenmitgliedern entgegen gebracht, wenn bei den Tieren der Stärkere längst die neue Rolle übernommen hätte.

Gleichzeitig wird von bestimmten Personen erwartet, dass sie ihre Rolle erfüllen. Rechte und Pflichten eines Menschen hängen nicht von der Person ab, sondern von der eingenommenen Position. So erwarte man von einem Universitätsprofessor ein typisches Verhalten, unabhängig von der jeweiligen Persönlichkeit. Bloch bezeichnet dies als das transzendent Soziale.
Gruppen von Lebenden und Toten
Das Schaffen derart vorgestellter oder eingebildeter Rollen führt dazu, dass man einer Gruppe angehören kann, ohne die anderen Mitglieder der Gruppe zu kennen oder jemals getroffen zu haben. Erst durch die Einbildung künstlicher Gruppen, wird zum Beispiel der Satz möglich: ¿Wir sind vor 200 Jahren hierher gekommen¿. Es entsteht eine künstliche Zusammengehörigkeit zwischen Personen, die nicht zur gleichen Zeit gelebt haben.

Für Bloch sind es diese in der Steinzeit neu entstandenen Sichtweisen von sozialen Rollen und Gruppen, die es erst ermöglichen, dass Religionen auftauchen. Da nur der Homo sapiens diese Fähigkeit besitzt, liegt für Bloch der Schlüssel zum Verstehen des Aufkommens der Religionen in der Neurologie: Sie müsse herausfinden, wann und wie die Vorstellungskraft entstanden ist, die uns vom Affen unterscheidet.

Mark Hammer, science.ORF.at, 29.4.08
->   Maurice Bloch - London School of Economics
 
 
 
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01.01.2010