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Osteuropa: Menschen zögern beim Kinderkriegen  
  Gute Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder und vergleichsweise hohe Geburtenraten zählten zu den wenigen Erfolgen des kommunistischen Systems. Seit 1989 bekommen Frauen aber auch in Osteuropa immer weniger Kinder.  
Der Wunsch nach einer beruflichen Karriere vor der Gründung einer Familie und ungewisse Zukunftsaussichten in den teilweise immer noch relativ armen Regionen schrecken viele ab, den entscheidenden Schritt zu tun.

In den zehn postkommunistischen EU-Staaten kamen 2006 auf eine Frau im gebärfähigen Alter durchschnittlich 1,3 Kinder. Vor dem Fall des Kommunismus hingegen war die Zahl bei 2,1 gelegen.
Angebot an Kinderkrippen ging rapide zurück
Der Geburtenrückgang in Osteuropa begann mit dem Übergang zur Marktwirtschaft. "Anfang der 1990er Jahre gab es eine sehr harte wirtschaftliche Periode, niedrige Einkommen und eine Welt, die sich schnell veränderte", erläutert die Demografin Vlada Stankuniene aus Litauen.

Soziale Einrichtungen wie Kinderkrippen fielen als erstes weg, als die Rolle des Staates radikal reduziert wurde. In Tschechien ist das Angebot an Kinderkrippen nach Angaben der Vereinigung tschechischer Frauen binnen 15 Jahren um 94 Prozent zurückgegangen.
Durchschnittsalter steigt
Mit der Zeit hat das neue System auch die Mentalität der Menschen verändert. "Wir sehen neue Werte, mehr Individualismus, ein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, Engagement für die Karriere - das verzögert die Gründung einer Familie und die Geburt von Kindern", erklärt Stankuniene.

Zum Ende der kommunistischen Zeit bekamen die Frauen in Osteuropa mit durchschnittlich 23 Jahren ihr erstes Kind.
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Nachholen westlicher Entwicklung
In Polen lag das Durchschnittsalter der Erstgebärenden im vergangenen Jahr dagegen bei 25,6 Jahren. Damit folgten die postkommunistischen Länder allerdings nur mit Verzögerung einem Trend, der in den 1960er Jahren in Skandinavien begann und dann auf West- sowie Südeuropa übergriff, stellt die Demografie-Professorin Irena Kotowska von der Warschauer Wirtschaftshochschule SGH fest.
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Finanzielle Anreize
Alarmiert vom Geburtenrückgang haben die Regierungen der Region Programme mit finanziellen Anreizen zum Kinderkriegen aufgelegt. In Rumänien wurde 2006 ein Gesetz verabschiedet, wonach für jedes Neugeborene rund 50 Euro als Prämie gezahlt werden und anschließend jeden Monat 60 Euro bis zum Alter von zwei Jahren.

In der Slowakei erhalten die Eltern bei der Geburt des ersten Kindes 340 Euro, für jedes weitere Kind 140 Euro. Die bulgarische Regierung beschloss vergangenen Monat eine besonders originelle Unterstützung: Junge Paare müssen ihre Kredite für das Studium nicht zurückzahlen, wenn sie in den ersten fünf Jahren nach Abschluss der Universität mindestens zwei Kinder bekommen.
Änderung der Rahmenbedingungen ...
Stankuniene hält solche Maßnahmen allerdings für unzureichend. "Wenn der Schwerpunkt weiter bei finanziellen Hilfen gesetzt wird, können wir keine Zunahme der Geburten erwarten", schätzt sie.

"Die Situation könnte sich ändern, wenn Teilzeitarbeitsplätze oder Heimarbeitsplätze geschaffen werden und auch die Kinderbetreuung entwickelt wird, vor allem für die unter Fünfjährigen", erklärt die Demografin.
... und der Einstellung der Männer
Nach Einschätzung von Kotowska wird selbst das nicht ausreichen. "Diese Lösungen werden nur geringe Bedeutung haben, wenn es keine Veränderung in der Mentalität gibt", sagt die Warschauer Professorin.

Die Männer müssten endlich bereit sein, Hausarbeit und Kindererziehung mit den Frauen zu teilen. Dann könnten die Frauen wieder akzeptieren, mindestens zwei Kinder durchschnittlich zu haben. So ist es in Schweden und Finnland gekommen. Diese beiden Länder liegen heute beim Kinderkriegen an der Spitze der EU.

Jean-Luc Testault, AFP, 7.5.08
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01.01.2010