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Der Zauber des Mittelalters  
  Historische Romane und Kinoverfilmungen boomen. Spätestens seit Umberto Ecos "Der Name der Rose" genießt vor allem das Mittelalter eine besondere Anziehung. Woher sie kommen könnte, beschreibt der Historiker Valentin Groebner von der Universität Luzern in einem Gastbeitrag. Neben dem Argument, wonach das als "unverfälscht" empfundene Mittelalter im Gegensatz zu unserer "korrumpierten" Gegenwart steht, verweist er auf ganz persönliche Erfahrungen.  
Es sind nicht zuletzt ästhetische und emotionale Gründe, die das Mittelalter so anziehend machen - etwa der Zauber jahrhundertealter Dokumente.
Gelehrte Sehnsüchte
Von Valentin Groebner

Warum will der Mittelalterspezialist das wissen, was er so ausführlich und detailliert erforscht, all diese Geschichten, die sechs, acht oder zehn Jahrhunderte zurück liegen?

Weswegen sich im Zeitalter von menschengemachter Klimaerwärmung und weltweiter elektronischer Datenvernetzung (um zwei eher beliebige Beispiele zu nennen) mit dem Rekonstruieren von Details der karolingischen Renaissance, des Reichskirchensystems, des Investiturstreits oder des Alltags spätmittelalterlicher Stadtbewohner beschäftigen?

Als hätten wir keine anderen Sorgen. Offenbar geht es um Wünsche.
Distanzierung von einer ungenügenden Gegenwart
Übers Mittelalter zu reden und schreiben heißt Wünsche zu verhandeln. Denn diese Epoche ist buchstäblich durch Wünsche erschaffen worden, vor mehreren hundert Jahren, und seither wird sie mit Wünschen entworfen, umrissen, ausgestattet und möbliert. Ziemlich unterschiedlichen Wünschen.

Was begehrt derjenige, der etwas vom Mittelalter wissen will? Über das Mittelalter wissenschaftlich zu arbeiten ist häufig mit der Sehnsucht verbunden, dieses entfernte Zeitalter zur Distanzierung von einer als aufdringlich oder hässlich, kurz, ästhetisch (oder moralisch) ungenügenden Gegenwart zu nutzen.

Historikerinnen und Historiker, ein zwischen emphatischem Redefluss und Menschenscheue schwankender Menschenschlag, gestehen das gewöhnlich nur zögernd ein.
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Tagung zum Thema in Wien
Die Unanschaulichkeit der Geschichte. Über die Darstellbarkeit des Vergangenen: u.a. mit Valentin Groebner, Karl Schlögel, Inka Mülder-Bach, Monika Wagner, Anton Holzer, Bernd Roeck, Heinz-Dieter Kittsteiner
Zeit: 29.-31. Mai 2008
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
Die Tagung ist öffentlich zugänglich, freier Eintritt.
->   Programm und Abstracts der Tagung
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Trostsuche in einer "unverfälschten" Vergangenheit
Ihre Kollegen aus der Unterhaltungsliteratur sind da direkter. "Er liebte die unverfälschten Emotionen und die unverfälschten Weine und Produktionsweisen der Vergangenheit" hat Carl Amery vor dreißig Jahren in seinem wunderbar gelehrten Science-Fiction-Roman "Das Königsprojekt" von seinem Helden geschrieben, dem Schweizergardisten Füssli.

Füssli hat das Privileg, im Auftrag des päpstlichen Geheimdiensts mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen zu können und diese nachträglich im Sinne des Heiligen Stuhls in Ordnung zu bringen.

Er darf bei diesen Ausflügen allerdings nicht gegen die schriftliche Überlieferung verstoßen, sonst geht er in der Vergangenheit verloren, und die Zeitmaschine kehrt leer in den Vatikan zurück. Amerys Schweizergardist ist natürlich niemand anderer als der Historiker selber.

Amüsanter ist das Vetorecht der Quellen selten auf den Punkt gebracht worden. Die Beschäftigung mit dem Mittelalter soll Trost bieten, Schutz und Distanzierung von der als unrein und korrumpierend empfundenen Welt des eigenen Alltags. Das ist etwas anderes als der Wunsch, in dieser Vergangenheit zu leben.
Trick-Kritik an der Moderne
Selbstbewusster kommt ein zweiter Wunsch als Zugang zum Mittelalter daher. Die vormoderne Vergangenheit wird dabei als ein fernes Land mit urtümlichen Bewohnern beschrieben, dessen Errungenschaften, Komplexität und Würde man gegen die Herablassung der Moderne verteidige.

Das ist natürlich ein kleiner Trick. Denn unsere Kritik an der Moderne kann nicht von außerhalb der Moderne kommen. Gewöhnlich wird ein authentisches Mittelalter genau dafür angefertigt, die Moderne von einem imaginären nicht-modernen, aber gleichzeitigen Standpunkt aus zu kritisieren.
Grundlagen, die uns bis heute prägen?
Noch expliziter - und häufiger - wird ein dritter Grund angeführt: Dass nämlich jene Grundlagen der europäischen Kultur, die im 11., 13. oder 15. Jahrhundert entstanden seien, unsere eigene Gegenwart heute weiterhin prägten, auf selbstverständliche Weise; dass die Gegenwart nur "mit Hilfe der Vergangenheit" verstanden werden könne, weil sie selbst von jenen historischen Inhalten determiniert sei.

So formulieren wir Spezialisten das gewöhnlich in Anträgen auf Forschungsprojekte und auf den Klappentexten unserer Bücher. Aber stimmt das überhaupt?
Mittelalterlicher Karneval auf der Startbahn West
Als Student hat mich das nicht überzeugt. Ich fand in meinen ersten Semestern die Geschichte das 19. Jahrhundert viel interessanter. Aber von mittelalterlichem Material ging eine spürbare ästhetische Wirkung aus. Dazu kam noch etwas zweites, das auf den ersten Blick gar nicht dazu passen mag.

Ich habe am Beginn der 1980er Jahre an den Demonstrationen gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen teilgenommen und fand das wilde theatralische Spektakel damals höchst verlockend und aufregend: Leute, die sich mit schwarzen Masken vorm Gesicht für einen Nachmittag im Wald verkleideten, halb lautstarke narzisstische Laienspieltruppe, halb Trachtenverein mit selbsterfundenem Brauchtum.

Man konnte etwas körperlich nachspielen in dieser großen Cowboy-und-Indianer-Inszenierung. Angesichts von Wasserwerfern, Polizeiknüppeln und Tränengas war das mit einem gewissen Risiko verbunden. Aber in dieses männerbündlerische Ritual ließ sich hineinschlüpfen und auch ziemlich rasch wieder hinaus, wenn's einem dann doch zu heftig wurde.

Das hat mich an den mittelalterlichen Karneval erinnert, über den ich zur selben Zeit eine Seminararbeit schrieb; und über dieser Mischung aus gespielter und echter Gewalt fing ich an, mich fürs Mittelalter zu interessieren.
Der Zauber von alten Dokumenten
Als ich zum ersten Mal in einem Archiv saß, bekam ich nach dem Ausfüllen eines Formulars ohne viel weitere Umstände einen Stapel von Papier auf den Tisch vor mich gelegt. Das Papier war fünfhundert Jahre alt, und es hatte diesen unglaublichen materiellen Zauber, einfach da zu sein.

Man konnte es anfassen: Tintenspuren auf festem, etwas grobfaserigem, aber sehr soliden bräunlichen Papier, die seit sehr langer Zeit niemand mehr gelesen hatte und die noch nirgends gedruckt waren.

Und ich verstand, dass das Archiv voller solcher mehr oder weniger unerforschter Texte steckten, aus denen ich Bruchstücke fremder Geschichten würde herausholen und zu neuen Geschichten zusammensetzen können.
Zwischen Akademie und Pop
Der Mittelalterboom der Achtzigerjahre von Arno Borst und Jacques Le Goff bis zu Umberto Eco hatte diese exotische verlockende Epoche als Überbrückung zwischen Akademie und Pop hervorgezaubert.

Das damit verbundene Versprechen war doppelt: Erstens auf Wissen als Spezialistentum, als eine Art fliegender Teppich, der mich an andere begehrenswerte Orte bringen würde. Und zweitens, dass dieses Mittelalter neu erzählt werden wollte und gleichzeitig etwas sein würde, für das ich nicht vollständig Verantwortung würde übernehmen müssen.

Denn war das nicht alles ein paar Jahrhunderte alt und trotzdem da, alter Text, ganz handfest vorhanden auf diesem festen bräunlichen Papier?
Selbsterinnerung als Element der Mittelaltergeschichte
Wer zur Verteidigung des Mittelalters vorbringt, dass naturwissenschaftliche Empirie durch Experimentieren ein Konzept des 13. Jahrhunderts sei, dass das Rechnen mit der Zahl Null eine mittelalterliche Errungenschaft sei und das moderne Wort Display vom altfranzösischen despieger abgeleitet, vom Auseinanderfalten der Fahne auf dem Schlachtfeld, der überzeugt vor allem andere Mittelalterspezialisten.

Denn die Praktiker aus den Natur- und Medienwissenschaften können auch ohne diese Informationen mit ihren Reagenzgläsern, Berechnungen und Computern problemlos weitermachen.

Mittelaltergeschichte funktioniert wie jede andere Disziplin dadurch, dass sie ihre Fähigkeit zur Auto-Memoria zum Strukturelement erhebt: Das ist das Gruppenbildende an ihr.

In ihr werden erfolgreiche Forscher nachträglich von ihren Schülern zu zentralen Figuren von immer höherem wissenschaftlichen Rang stilisiert, und Karrieren beruhen auf der Fähigkeit des jeweiligen Aspiranten, sich in diesen künstlichen Abstammungs- und Verwandtschaftssystemen selbst zu platzieren. Ein gut eingespieltes und lang erprobtes System. Ob es aber gegen Desinteresse von außen hilft?

[28.5.08]
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Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus Valentin Groebners soeben erschienenem Buch: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, C. H. Beck Verlag: München 2008.
->   Das Buch im Beck Verlag
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Über den Autor
Valentin Groebner ist seit März 2004 Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Studium in Wien, Marburg und Hamburg; Promotion 1991 in Bielefeld, Habilitation 1998 an der Universität Basel. 1996/97 Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg, 1999/2000 Visiting Professor am Department of History of Art, Harvard University; Frühjahr 2001 professeur invité an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris.
->   Valentin Groebner, Universität Luzern
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01.01.2010