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"Politik mehr als Technologie der Macht"
Charta 77 veränderte Politikverständnis in Tschechien
 
  Auf die Niederschlagung des Prager Frühlings, die sich am 21. August 2008 zum 40. Mal jährt, folgten in der damaligen Tschechoslowakei Jahre der strengen Überwachung. Erst neun Jahre danach, am 1. Jänner 1977, gründete sich mit der Charta 77 eine zivilgesellschaftliche Bewegung, deren Mitglieder sich für die Einhaltung der Menschenrechte engagierten.  
Den jungen Tschechen ist der Prager Frühling kaum mehr ein Begriff, weil das für sie "schon fast das Mittelalter" sei, schildert der tschechische Historiker Vilém Precan im science.ORF.at-Interview. Die Charta 77 sei aber sehr wohl noch für viele von Interesse, vielleicht auch deswegen, weil sie gezeigt habe, dass Politik mehr sei als eine Technologie der Macht.

science.ORF.at: Vaclav Havel ist schon lange nicht mehr Präsident, die Unterzeichner der Charta 77, die nach dem Ende des Kommunismus 1989 viele Ministerämter besetzten, sind aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sehen Sie heute noch Spuren dieser Menschenrechtsbewegung in der tschechischen Gesellschaft?

Vilém Precan: Es stimmt nicht ganz, dass sie aus der Öffentlichkeit verschwunden sind. Es gibt noch immer politisch aktive Vertreter der Charta wie etwa den stellvertretenden Senatsvorsitzenden Petr Pithart oder der stellvertretende Ministerpräsident Alexander Vondra, um nur zwei Beispiele zu nennen. Generell kann man feststellen, dass die Charta 77 im kollektiven Gedächtnis noch sehr präsent ist.

2007 feierten wir 30 Jahre Charta und waren überrascht, wie intensiv die Medien über die damalige Bewegung berichtet haben. Ich selbst bin immer wieder erstaunt, wie viele junge Menschen an der Universität sich in ihren Diplomarbeiten und Dissertationen der Charta 77 widmen. Da beginnt eigentlich erst die Aufarbeitung.
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Die Charta 77
Die Charta 77 war die am längsten operierende Oppositions- bzw. Dissidentenbewegung in den Ländern des ehemaligen "Ost-Blocks". Die erste Deklaration vom 1. Januar 1977, gleichzeitig auch das Gründungsdokument, wurde von 241 Menschen unterschrieben, bis zum Januar 1990 waren es über 1.800 Unterschriften. Im Zentrum der Charta standen Forderungen nach der Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte sowie die Dokumentation von staatlichen Übergriffen.
->   Mehr über die Charta 77
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Sie gelten als DER Chronist der Charta 77, haben zahlreiche Publikationen veröffentlicht, in denen sich Originaldokumente der Charta finden. Wie kann man sich diese Forschungsarbeit vorstellen unter der Prämisse, dass die Aktivisten der Bewegung verfolgt wurden und Sie im Exil in Deutschland waren?

Precan: Das Interessante ist, dass ich eigentlich keine großen Probleme hatte, zu den Dokumenten der Charta 77 zu gelangen, weil sich über die Staatsgrenzen hinweg ein gut organisiertes Netzwerk entwickelt hatte. Ein wichtiger Kanal war die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag, die schon in den 1970er Jahren geholfen hat. Vor allem der Kulturattaché hielt mit den Aktivisten Kontakt, sammelte Dokumente und brachte sie immer wieder mit nach Deutschland. Ich sammelte die Unterlagen und begann, ein Archiv aufzubauen. Nach dem Umbruch 1989 konnte ich das Material auch in der Tschechischen Republik als Bücher herausgeben.
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Zur Person
Vilém Precan, 1933 Olomouc (Olmütz) geboren, wurde zum Verhängnis, dass er als Mitherausgeber eines Buchs über die Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in der CSSR fungierte. Die Inhalte missfielen der Sowjetunion, die eine offizielle Protestnote an die tschechoslowakische Regierung schickte. Precan erhielt Berufsverbot und wanderte 1976 mit seiner Familie nach Deutschland aus, wo er ein Dokumentationszentrum zur Förderung der unabhängigen tschechoslowakischen Literatur aufbaute. Nach 1989 kehrte er nach Prag zurück und gründete 1990 das Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften. Precan war anlässlich einer Tagung des Forschungszentrums für historische Minderheiten in Wien.
->   Mehr über das Zentrum und eine Ausstellung zum Thema
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Das Ausland tat sich nicht leicht mit der Charta 77. Zwar sympathisierten viele Politiker mit der Initiative, offene Unterstützung war aber aus diplomatischen Gründen nicht möglich. Was weiß man heute über die Einschätzung der Charta 77 durch die angrenzenden Staaten?

Precan: Bisher konnte ich leider nur die Dokumente der Außenministerien von Deutschland und Frankreich zu dieser Zeit auswerten, Österreich hat die Herausgabe der Akten bei meiner letzten Anfrage 2006 mit Verweis auf eine 30-jährige Sperrfrist verweigert. Aus dem, was bisher bekannt ist, weiß man aber, dass Westdeutschland am aktivsten war in der verdeckten Unterstützung der Charta. Den ersten Hinweis, dass in der CSSR eine Menschenrechtsbewegung in Gründung war, fand man in einer Depesche der Prager Botschaft nach Bonn vom 30. 12. 1976, in der genaue Angaben über das bevorstehende Auftreten der Charta enthalten waren.
Die Hauptforderung der Charta 77, die Einhaltung der Menschenrechte, war eigentlich mit dem Übergang zur Demokratie erfüllt. Deshalb stellte die Charta am 3. November 1992 auch ihre Tätigkeit ein und veröffentlichte eine Abschlusserklärung. Haben ihre Forderungen dennoch heute noch Relevanz?

Die Forderungen haben sicher noch in zweierlei Hinsicht Relevanz: Erstens ist Menschenrechtspolitik fixer Bestandteil der tschechischen Außenpolitik, sei es das Engagement in Kuba oder in Weißrussland. Zweitens hat auch innerstaatlich die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte große Bedeutung, man denke nur an die Probleme der Roma in der Tschechischen Republik, denen noch immer viele Rechte verwehrt werden.

Ich glaube, dass die Charta 77 auch das Politikverständnis der tschechischen Gesellschaft mitgeformt hat. Die Charta hat vermittelt, dass Politik keine Technologie der Macht, sondern Dienst an der Gesellschaft sein sollte. Diese Forderung wird wohl immer aktuell sein.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 9.6.08
->   Charter 77 After 30 Years - Documenting the Human Rights Declaration
->   "Prager Frühling 1968" - Dokumentation mit zahlreichen Fotos etc. (tschechisch)
 
 
 
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01.01.2010