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Prager Frühling: "Brisanz falsch eingeschätzt"  
  "Aus heutiger Kenntnis der Abläufe betrachtet hat Österreich die akute Brisanz vor der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings falsch eingeschätzt." Das bestätigt Stefan Karner, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung.  
Denn als die Panzer im August 1968 auf Prag und Bratislava zurollten, waren die Vertreter der österreichischen Staats- und Heeresspitze auf Urlaub und weitgehend telefonisch nicht erreichbar.
Von Militäraktion überrascht
"Auch die USA waren überrascht, als es doch am 20. August zum Einmarsch kam. Trotz der zahlreichen Informationen von Geheimdiensten und 'Kundschaftern', ging man immer noch davon aus, dass es zu keiner militärischen Aktion kommt", sagte der Leiter des Forschungsprojekts zum Prager Frühling, an dem rund 80 Historiker aus Europa, den USA und Russland beteiligt waren.
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Neue Publikation
Stefan Karner - Natalja Tomilina - Alexander Tschubarjan u. a. (Hg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Bd.1: Beiträge, Bd. 2: Dokumente, zus. 2.900 S., Böhlau-Verlag. Das Buch wurde Anfang Juli in Wien vorgestellt.
->   Details zur Buchpräsentation
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Äußerste Zurückhaltung
Österreich verhielt sich damals, auch unter dem Eindruck der keine 13 Jahre zurückliegenden Sowjetbesatzung, sehr zurückhaltend. Sehr umstritten ist etwa die Anweisung von Außenminister Kurt Waldheim an die Botschaft in Prag, CSSR-Bürgern keine Visa auszustellen.

Bundeskanzler Josef Klaus betonte via Rundfunk die Verpflichtung zur Neutralität und äußerte den Wunsch, die heimischen Truppen dürften sich der Grenze nur auf 30 Kilometer nähern. Österreich zeigte sich wegen der sowjetischen Überflüge und der Landung eines Sowjethubschraubers im Weinviertel nur verärgert, der Protest war äußerst zahm.
Gas schon damals wichtig
Ein wichtiges Detail war auch damals schon Gas. Erst kurz zuvor war zwischen Österreich und der Sowjetunion ein Vertrag abgeschlossen worden, der zum ersten Mal die Lieferung von Gas durch den Eisernen Vorhang ab 1. September 1968 vorsah.

Ein Lieferstopp, zumindest jedoch eine Verzögerung war zu erwarten. Doch die Sowjetunion lieferte vertragsgemäß, zehn Tage nach dem Einmarsch in Bratislava und Prag, erinnert sich etwa der damalige EVN-Generaldirektor Rudolf Gruber.
Medien ließen sich nicht steuern
Österreichische Politiker versuchten, über Hintergrundgespräche Einfluss auf die Medienberichterstattung zu nehmen, damit diese die "Ereignisse unter Berücksichtigung der österreichischen Neutralität beleuchten". Die Medien handelten allerdings nicht danach.

Karner: "Österreich mit seinem Radio und Fernsehen und die Printmedien wurde zu einer Relaisstation für die Übermittlung von Nachrichten aus der CSSR. Weil Männer wie Gerd Bacher, Alfons Dalma, Hugo Portisch, Hans Dichand, Fritz Csoklich oder Helmut Zilk nicht einmal im Entferntesten daran dachten schönzufärben. Das haben dann ja die Sowjets auch immer wieder kritisiert, bis sie es schließlich einsehen mussten."
Keine neuen Belege zu Ost-Geheimdiensten
"Die Sowjets" kritisierten Österreich zudem als "Tor für westliche Agenten". Auch dazu haben die Forscher "eine ganze Menge interessantes Material", sagte Karner. Aber umgekehrt: Über die Spionagetätigkeit der Geheimdienste des Ostblocks in Österreich gibt es keine neuen Belege.

Dass diese "sogenannten Vaterlandsverräter weiter beobachtet, oft auch verfolgt wurden, dürfte kein Geheimnis sein. Die tschechischen und slowakischen Dissidenten waren sich dessen auch sicher bewusst, ob sie nun Vaclav Havel, Pavel Kohout oder Jiri Grusa hießen."
Eigentlich politische Lösung gewollt
Zu den überraschendsten Erkenntnissen des Projekts zählt Karner, dass der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid "Breschnew und die Sowjetführung fast bis zuletzt eine politische Lösung wollten und kein militärisches Dreinhauen".

Der tschechoslowakische KP-Chef Alexander Dubcek sollte selbst den 180-Grad-Schwenk vollziehen. Dazu war er aber erst nach dem Einmarsch und dem Moskauer Diktat gezwungen.
Proteste auch in Moskau
"Als unglaublich" bezeichnete Karner "den Protest gegen den Einmarsch nicht nur in der Tschechoslowakei und im Westen", sondern "bis in die hintersten Winkel des Sowjetstaates. Selbst im Gebiet Stawropol, wo damals Gorbatschow lokaler Parteichef war, wurden - aus Angst vor einem möglichen Übergreifen des tschechoslowakischen Bazillus - alle 14 Tage Infoveranstaltungen gemacht, die Parteileute geschult, auf Meetings die Kreml-Linie vertreten."

"Die ukrainischen und weißrussischen KP-Chefs zitterten vor der Droge Freiheit, wie sie in Prag gekostet wurde. Selbst auf dem Roten Platz in Moskau gab es eine Demo!"

[science.ORF.at/APA, 3.7.08]
->   Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung
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01.01.2010