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Monströse Mutationen: Mit Antennen sehen  
  Der Schweizer Genetiker Walter J. Gehring hat vor einigen Jahren Fliegen mit zusätzlichen Augen an Beinen und Antennen hergestellt. Nun weist er in einer Studie nach: Die Zusatzaugen sind tatsächlich funktionstüchtig, wobei es aber auf die "Verkabelung" im Gehirn ankommt, welche Aufgabe sie übernehmen. Im Prinzip wäre es möglich, dass die Fliegen zwar Licht nicht sehen, dafür aber - so absurd es auch klingt - riechen.  
Hierarchie statt Kette
A, T, G, C - die Buchstaben der DNA sind wie Perlen auf einer Schnur angeordnet und bei den Genen ist es in der Regel auch so ähnlich. Zwar gibt es Gene, die überlappen und sich Buchstaben quasi teilen, aber das ist die Ausnahme. Normalerweise liegen sie hintereinander, Stück für Stück.

Das Perlenkettenbild führt aber dennoch in die Irre, zumindest was die Zusammenarbeit der Gene betrifft. Die ist nämlich hierarchisch organisiert, das heißt, es gibt welche, die Enzyme, Ionenkanäle, Bauteile des Zellskeletts oder ähnliches herstellen.

Und dann gibt es noch solche, die nichts anderes tun, als andere Gene an- und abzuschalten. Bzw. nicht nur ein Gen, sondern gleich eine ganze Kaskade, ein genetisches Programm, das ein ganzes Organ bildet.
Das Gen, das Augen macht
Ein solches Gen hat der Schweizer Biologe Walter Gehring in den 90er Jahren entdeckt. Es heißt "eyeless" und steuert die Entwicklung von Insektenaugen. Der Name "ohne Augen" legt eigentlich das Gegenteil nahe. Das ist ohne Zweifel ein wenig verwirrend und liegt an der üblichen Vorgehensweise der Genetiker.

Sie schalten mitunter Gene ab und sehen nach, was dann passiert. Fällt irgendein Funktionskreis aus, dann weiß man: Das Gen X ist dafür notwendig. Im Fall von "eyeless" hatten die dergestalt mutierten Fruchtfliegen eben gar keine Augen, daher der Name.
Ein Urauge für alle?
 
Bild: Universit¿t Basel

Gehring fand jedenfalls heraus, dass man die Sache auch andersrum angehen kann. Er aktivierte das Gen außerhalb des Kopfbereiches - und siehe da: Es entstanden an ganz ungewöhnlichen Orten zusätzliche Insektenaugen, nämlich an Antennen, Beinen und Flügeln (Bild oben). Kurz darauf fand man heraus, dass auch Tintenfische, Strudelwürmer und Muscheln eine ganz ähnliche Variante in ihrem Erbgut tragen. Auch Wirbeltiere - und Menschen - haben es, dort heißt es "pax6".

Das warf zwei Fragen auf: Erstens diskutierten Fachleute, ob "eyeless" (bzw. "pax6") das Augenlicht in die bis dahin dunkle Naturgeschichte gebracht hat, ob dieser genetische Hauptschalter Uraugen entstehen ließ, aus denen sich dann sämtliche Augentypen entwickelt haben, die man heute im Tierreich kennt. Gehring glaubt, das war so, aber die meisten Kollegen aus den Evolutionsbiologie-Departments widersprechen.

Sie votieren dafür, dass die gänzlich unterschiedlichen Augentypen - Facetten, Kameras usw. - unabhängig entstanden sind. Dass für ihre Entwicklung immer das gleiche Gen eine Rolle spielt, spreche zwar für die Recycling-Tendenz der Natur, heiße indes noch lange nicht, dass es nur ein Urauge gegeben hat ( Science Bd. 272, S. 467).

Letztlich kann man die Debatte auf die (alte) Kernfrage reduzieren, was man denn für eine notwendige oder hinreichende Bedingung hält. Notwendig für die Augenenbildung ist "eyeless" ohne Zweifel. Ob es allerdings auch hinreichend ist, darüber streiten sich eben die Geister.
Funktionstüchtige Zusatzaugen
Bild: Universit¿t Basel
Drosophila mit Facettenaugen auf den Antennen
Und dann gab es natürlich die Frage, ob die Augenpaare an Beinen und Antennen auch zu gebrauchen sind. Nun, mehr als 10 Jahre später, stellt Gehring Versuche vor, die zeigen: Die Zusatzaugen dürften tatsächlich funktionieren. Sie bestehen aus den gleichen Bauteilen wie ihre Vorbilder am Kopf, sie reagieren auf Licht und bilden Nervenfortsätze ins Gehirn mit entsprechenden Synapsen aus (PNAS Bd. 105, S. 8968).

Die Nervenfortsätze wachsen zwar nicht direkt ins Sehzentrum der Fliegen, "was daran liegt, dass sie ja auch normale Augen haben", sagt Gehring im Gespräch mit science.ORF.at. Mit anderen Worten: Im Sehzentrum ist schlichtweg kein Platz, daher wandern die Nerven aus den Antennen eben ins Antennenzentrum, wo unter anderem der Geruchssinn sein Zuhause hat.

"Ich hatte die Idee, dass die Fliegen mit ihren Zusatzaugen Licht riechen können, dafür müssten sie jedoch an die Glomeruli angeschlossen sein." Das sind jene Hirnbereiche, wo auch die Geruchsrezeptoren via Nervenverbindung andocken. Allerdings fanden Gehring und seine Kollegen keine solche Verbindung.

Daher ist es wahrscheinlicher, dass die Fliegen mit dem Riechzentrum sehen, als dass sie Licht als Duft wahrnehmen. (Obwohl letzteres zu interessanten - wenn auch unbeantwortbaren Fragen geführt hätte. Etwa: Wie riecht das Licht der Morgensonne? Wie das einer Neonröhre?)
Schlag nach bei Goldschmidt
Gehrings Entdeckung erinnert ein wenig an eine alte Idee des deutschen Genetikers Richard Goldschmidt, der Anfang des 20. Jahrhunderts gemeint hatte, die belebte Natur mache bisweilen große Sprünge. Ursache seien Makromutationen, schrieb er, und daraus würden komplett neue Baupläne entstehen. "Hopeful monsters" nannte er diese auf einen Schlag umgestalteten Tiere, aber er bleib mit dieser Theorie allein.

Denn die Fachwelt reagierte, wenn überhaupt, belustigt. Eine gewisse Ähnlichkeit zu den Goldschmidt'schen Monstren kann man den Fliegen mit Antennenaugen allerdings nicht absprechen. Könnte es so etwas nicht auch in der freien Natur geben? "Ohne Zweifel", sagt Gehring: "Es gibt solche Tiere sogar bereits. Eine Kollegin von mir hat im brasilianischen Regenwald eine Fruchtfliege gefunden, die ein zusätzliches Augenpaar auf den Antennen hatte. Genau so, wie die aus unserem Labor. "

Die Frage ist nur, ob das auch irgendeinen Vorteil bietet. Gehring: "Das glaube ich nicht. Normalerweise werden so massive Umbauten von der Selektion schnell wieder ausgesiebt. " Auch wenn die Mutanten In der freien Wildbahn wohl eher "hopeless monsters" sein dürften, in Gehrings nächstem Experiment können sie zeigen, was sie wirklich draufhaben.

"Wir wollen bei den Fliegen die Bildung der normalen Augen unterdrücken und sie nur mit Antennenaugen ausstatten. Dann wird man sehen, wozu sie gut sind."

Robert Czepel, science.ORF.at, 4.7.08
->   Walter J. Gehring
->   Richard Goldschmidt - Wikipedia
->   pax6 - Wikipedia
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01.01.2010