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Wenn sich Utopien der Wirklichkeit annähern  
  Utopien hatten in der Geschichte der Menschheit unterschiedliche Funktionen: Konzentrierte man sich im 17. und 18. Jahrhundert noch auf Beschreibungen idealer Gesellschaften, fokussieren sich die Fiktionen der Neuzeit auf das technisch Machbare und die möglichen negativen Folgen. Der Literaturwissenschaftler Wilhelm Vosskamp lässt in einem Gastbeitrag die Geschichte der Utopien Revue passieren.  
Konstruktionen des Möglichen und Machbaren in literarischen Utopien der Neuzeit
von Wilhelm Vosskamp

Wissenschaft und Technik bieten literarischen Utopien eine Vielzahl von gemeinsamen Gegenstandswelten, weil sie prinzipiell das Neue thematisieren und Spielräume des Möglichen und Machbaren erkunden.

Veränderungsdenken ist die Bedingung der Möglichkeit utopischer Phantasie.
Umsetzung des Geschilderten
In Utopien ist die Zunahme von Schilderungen auffallend, die auf künftige Umsetzungen des Geschilderten voraus weisen. Sind die Darstellungen frühneuzeitlicher Utopien, etwa der Renaissance (vgl. Bacons 'Nova Atlantis') in dem, was sie darstellen, noch weit entfernt von einer technischen Realisierung, ändert sich das im Zuge der Modernisierung.

Es wird deutlich, dass das in neuern Utopien Dargestellte durchaus auch realisierbar ist, etwa in der Raumfahrttechnik oder der Gentechnologie. Das Kennzeichen literarischer Utopien im 20. Jahrhundert besteht deshalb darin, dass das als möglich Gedachte auch zum technisch Machbaren wird, und damit Ängste erzeugt, die den Übergang von der (positiven) Utopie zur (negativen) Antiutopie (Dystopie) erklärt. George Orwells "1984" oder Aldous Huxleys "Brave New World" sind die bekanntesten Beispiele.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Wilhelm Vosskamp leitet gemeinsam mit Kenneth M. Roemer beim Europäischen Forum Alpbach 2008 das Seminar "Utopias and alternative (visions of) worlds" (15.-21.8.2008). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
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Idealstaatsmodelle
Die erste Phase wissenschaftlich- technischer Utopien steht im Zeichen des von Francis Bacon konzipierten Forschungskollegs "Salomons House" innerhalb der 1638 erschienenen Erzählung "Nova Atlantis".

Im Rahmen eines umfassenden Idealstaatsmodells wird eine wissenschaftliche Institution geschildert, die in vieler Hinsicht an Modelle der Royal Society erinnert und in dem es insbesondere um die mechanischen Künste und um zoologische Experimente geht.
Vom Raum- zu Zeitutopien
Damit liegt bereits im 17. Jahrhundert eine Darstellung vor, die in der Darstellung von Forschung, Forschungsorganisation und Forschungsmanagement in vieler Hinsicht als Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen angesehen werden kann.

Dies ist nur im Horizont von Veränderungsdenken und der Hoffnung auf Perfektionierbarkeit möglich. Sein Höhepunkt in der Geschichte literarischer Utopien wird in dem Augenblick erreicht, in dem Modelle von Raumutopien (Morus, Bacon, Campanella) in Modelle von Zeitutopien (vgl. Merciers "Das Jahr 2440"[1770]) übergehen.
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Dezidiertes Fortschrittsdenken
Die "Verzeitlichung" von Utopien im Sinne des Übergangs von Insel- zu Zukunftsutopien erfolgt im Zeichen eines dezidierten Fortschrittsdenkens, das seit Rousseaus "perfectibilité"-Vorstellung die Geschichte literarischer Utopien fortan konstitutiv bestimmt. Modelle eines unabschließbaren Fortschritts offenbaren allerdings auch bereits im 18. Jahrhundert Momente der Skepsis, die in Fortschrittskritik münden kann.
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"Genetic engineering"
Dies ist heute vornehmlich in der aktuellen Diskussion der aus der Utopie hervorgehenden Science-fiction-Literatur deutlich. Es lässt sich vor allem im Bereich der Biotechnologie
(und damit in der Tradition von Bacon und Huxley) beobachten.

Programmatische Deklarationen der Post- und Transhumanisten klingen bis in den Wortlaut hinein wie literarische Fiktionen in der Tradition eugenischer Vorstellungen, die dezidiert von einer Subjektstruktur des Menschen absehen und ihn eher als Auslaufmodell betrachten.

Dass es dabei durchgehend um die Entgrenzung der körperlichen Existenz des Menschen zugunsten einer Mensch-Maschine bzw. eines Informationsmusters oder Computer-Programms geht, wird in der Terminologie des "Transhumanismus" besonders anschaulich (vgl. etwa den Begriff des "genetic ingeneering").
Hohes Reflexionsniveau
Die Science-fiction-Literatur hat in der Geschichte von Homunculi oder anderen Androiden Wunsch- und Schreckbilder vorweggenommen, die in der gegenwärtigen posthumanistischen Literatur wiederkehren.

Nicht immer erreicht das Reflexionsniveau der 'wissenschaftlichen' Literatur das der fiktionalen. Das hängt auch damit zusammen, dass literarische Utopien seit ihrer Entstehung in der frühen Neuzeit nicht nur die Realität, auf die sie sich kritisch beziehen, zum Gegenstand einer Satire machen, sondern das Genre selbst einer satirischen Selbstkritik unterziehen (vgl. etwa bei Rabelais oder Swift).

In der avangardistischen Literatur der Gegenwart ist dies insbesondere bei Stanislav Lem der Fall.
Das Mögliche und das Machbare
Die Konstruktion des Möglichen und Machbaren in literarischen Utopien der Neuzeit verschieben sich zugunsten der Annäherung des Fiktiven an das technisch Machbare.

In dem Augenblick, in dem sich das tatsächlich Machbare dem literarisch Fantasierten annähert, werden die Grenzen zwischen dem Möglichen und Machbaren in der Literatur insgesamt durchlässig.
Lebensfreundliche Entwürfe gefragt
Der Literatur bleibt dann neben ihrem Spielerischen und Unterhaltungswert die Aufgabe der kritischen Reflexion von Entwicklungen, die nach wie vor im Zeichen von Wunsch- und Albträumen stehen.

Wenn heute literarische Albträume dominieren, dann deshalb, weil erst noch eine Literatur entwickelt werden sollte, die jenseits aller selbstreflexiven und selbstkritischen Satiren zu lebensfreundlichen Entwürfen kommen müsste: "Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben!"

[1.8.08]
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Zum Autor
Wilhelm Vosskamp ist Emeritus am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln. Als Direktor am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld und als Direktor des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs "Medien und kulturelle Kommunikation" an der Universität zu Köln leitete er größere interdisziplinäre Forschungsprojekte. Ausgangspunkt waren Studien zur Literaturwissenschaft und Geschichte und fächerübergreifende Brückenschläge zur Philosophie und Kunstgeschichte.
->   Lebenslauf und Publikationen
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01.01.2010