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Das Weltbild christlicher Fundamentalisten  
  Der Grazer Theologe Kurt Remele beschäftigt sich in seiner Forschungsarbeit unter anderem mit biblischem Fundamentalismus. In einem Gastbeitrag skizziert er das Weltbild US-amerikanischer Evangelikaler, das sich als seltsame Mischung von modernen und vormodernen Überzeugungen erweist.  
Fundamentalismus made in the U.S.A.
von Kurt Remele

In seinem 2003 erschienenen Reisebericht "Dark Star Safari" erzählt der US-amerikanische Schriftsteller Paul Theroux von seiner abenteuerlichen Tour durch Afrika, die ihn von Kairo nach Kapstadt geführt hat. Im Zug von Mozambiques Hauptstadt Maputo nach dem 200 Kilometer entfernten Chokwee begegnet Paul Theroux einer evangelikalen Missionarin aus Ohio namens Susanna.

Susanna ist Mitte zwanzig, trägt Khakihosen und einen weiten Pullover. Der bibeltheologisch erstaunlich bewanderte Theroux verwickelt die evangelikale Missionarin in ein spannendes Streitgespräch, das die Aporien des Biblizismus anschaulich illustriert:
Dialog mit einer Missionarin
"Warum haben Sie sich entschlossen, hier als Missionarin tätig zu sein?"
"Weil ich eine Sünderin bin, die durch die Gnade Gottes gerettet wurde."
"Wie denken Sie über Homosexuelle? Haben Sie eine Ansicht dazu?"
"Homosexualität ist ein abscheuliches Laster. Das steht im Buch Levitikus."

"Levitikus sagt ganz viele Sachen, der keine vernünftige Person zustimmen kann. Das Kapitel 15 handelt davon, dass eine Frau während ihrer Menstruation eine unreine Abscheulichkeit darstellt. Im 11. Kapitel heißt es, Fische ohne Schuppen wie etwa Thunfische seien ein Gräuel."

Susanne blieb unverdrossen und stur. Sie sagte: "Nicht nur Levitikus. Im Römerbrief sagt Paulus, dass Homosexualität eine Sünde ist. Ich hasse Homosexuelle nicht, aber sie begehen eine Sünde."

"Warum tötet man sie dann nicht? In Levitikus 20,23 heißt es, dass Männer für homosexuelle Handlungen mit dem Tod bestraft werden sollten", sagte ich. Glauben Sie an die Evolution?"
"Ich glaube an die Bibel."

"Wie lange gibt es schon Menschen auf dieser Erde?", fragte ich sie.
"Zwischen viertausend und sechstausend Jahren".
"Ist das für Sie ist eine wissenschaftliche Tatsache?"
"Es steht in der Bibel."
Dies- und jenseits des Bible Belt
Es wäre ungerecht, die US-amerikanischen Evangelikalen und Fundamentalisten auf einfältige Missionarinnen und korrupte Tele-Evangelisten zu reduzieren. Der überwiegende Teil der etwa 80 Millionen amerikanischen Evangelikalen in den Vereinigten Staaten sind redliche, freundliche, gottesfürchtige, ehrliche und vergleichsweise kinderreiche Bürgerinnen und Bürger.

Sie sind fest davon überzeugt, dass der Rest des Landes einen Vorort des Bible Belt darstellen sollte und der Rest der Welt einen Vorort der Vereinigten Staaten. Einige evangelikale Prediger, allen voran Billy Graham, haben die Abschottung gegenüber anderen christlichen Kirchen durchbrochen und sich in der amerikanischen Gesellschaft hohes Ansehen erworben.

Andere Prediger dagegen, so etwa der im Mai vergangenen Jahres verstorbene Jerry Falwell und Pat Robertson werden vielfach als "Fundamentalisten" bezeichnet, um sie von den gemäßigten "Evangelikalen" zu unterscheiden.

Diese Differenzierung ist sinnvoll, auch wenn sich Evangelikale und Fundamentalisten in vielen Dingen einer Meinung sind und die beiden Begriffe häufig synonym verwendet werden.
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Seminar beim Forum Alpbach
Kurt Remele leitet gemeinsam mit dem US-Theologen William Dinges beim Europäischen Forum Alpbach das Seminar "Understanding fundamentalism: An interdisciplinary analysis of 'Strong Religion'" (14.-21.8.08). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Forum Alpbach
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Die Bibel wörtlich nehmen
Der Fundamentalismusbegriff geht auf extrem konservative protestantische Gruppen in den Vereinigten Staaten des frühen 20. Jahrhunderts zurück, die die moderne Bibelexegese und sozialreformerische Deutungen des Christentums ebenso bekämpften wie jenen allgemeinen "Sittenverfall", der sich ihrer Meinung nach vor allem in Frauenemanzipation, Evolutionstheorie, Sozialismus und deutschen Bierbrauern manifestierte.

Fundamentalisten zeichnen sich durch einen legalistischen, ungeschichtlichen Umgang mit der Bibel aus, die als unfehlbares Wort Gottes und als autoritative Vorgabe gilt, und dies nicht bloß in religiösen und moralischen Fragen, sondern auch in Bezug auf historische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse.
Eine Festung unhinterfragter Gewissheiten
Soziologisch lässt sich der biblische Fundamentalismus als Phänomen religiöser Gegenmodernisierung und Radikalisierung beschreiben, als Versuch, sich aus einer als stark verunsichernd empfundenen Moderne (oder Spätmoderne) zusammen mit Gleichgesinnten in eine Festung unhinterfragter religiöser Gewissheiten zurückzuziehen.

Insgesamt stellt der biblische Fundamentalismus eine seltsame Mischung von Moderne und Vormoderne dar. Ein christlicher Fundamentalist wird keine Probleme damit haben, Schlaftabletten zu nehmen oder für ein multinationales Unternehmen zu arbeiten, das die Umwelt belastet und Sozialleistungen kürzt.

Doch gleichzeitig wird er oder sie den Alkoholkonsum verdammen und die Evolutionstheorie bekämpfen. Nach fundamentalistischer Auffassung sollten die staatlichen Schulen nicht die Evolutionstheorie vermitteln, sondern eine an der wörtlichen Auslegung der Bibel orientierte "creation science", eine "Schöpfungswissenschaft".
Fundamentalismus und die katholische Kirche
Im ihrem Dokument A Pastoral Statement for Catholics on Biblical Fundamentalism aus dem Jahre 1987 haben sich die katholischen Bischöfe der U.S.A. kritisch mit dem protestantischen Fundamentalismus auseinandergesetzt.

Gegenüber der Überzeugung von einer absoluten Irrtumslosigkeit der Bibel auch in naturwissenschaftlichen und historischen Fragen verweisen die Bischöfe auf die Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese. Sie verschweigen nicht, dass sie die fundamentalistischen Bibelprediger für "terribles simplificateurs" halten, die "grob vereinfachende Antworten auf komplexe Fragen" vermitteln.

"Grob vereinfachende Antworten auf komplexe Fragen", "simplistic anwers to complex issues": Mit dieser Formulierung ist eines der zentralen Merkmale des religiösen Traditionalismus und Fundamentalismus genannt, des protestantischen, aber auch des katholischen.

Es wäre unredlich, traditionalistische und fundamentalistische Tendenzen nur im Protestantismus aufzuspüren, sie aber im Katholizismus zu ignorieren: den Antimodernisteneid beispielsweise und das traditionalistische Opus Dei, diverse Medjugorje- und Fatima-Gruppen und die fundamentalistische Priesterbruderschaft St. Pius X. von Erzbischof Lefebvre. Aber das ist eine andere Geschichte.

[11.8.08]
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Über den Autor
Kurt Remele ist Universitätsprofessor am Institut für Ethik und Gesellschaftslehre der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Karl-Franzens-Universität Graz; Wichtigste Publikationen: Ziviler Ungehorsam. Eine Untersuchung aus der Sicht christlicher Sozialethik. Münster: Aschendorff 1992; Tanz um das goldene Selbst? Therapiegesellschaft, Selbstverwirklichung und Gemeinwohl. Graz: Styria 2001
->   Kurt Remele
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01.01.2010