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Sadomasochismus: Riten und Strukturen einer Szene  
  Bis in die jüngere Vergangenheit galt Sadomasochismus als sexuelle Perversion. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden Menschen mit sexueller Vorliebe für Dominanz und Unterwerfung - nicht zuletzt durch Unterstützung von Kunst und Medien - vom Stigma des "Abartigen" befreit, was zur Herausbildung einer eigenen SM-Szene auch in Wien führte.  
Drei Wiener Soziologen haben ihre Strukturen und Riten analysiert und kommen kurz gesagt zum Schluss, dass vieles zwar "anders" wirkt, im Grunde aber parallel zu gängigen gesellschaftlichen Normen verläuft.
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Die Studie "Aber bitte mit Schlag! Zur Legitimation von Lust, Macht und Gewalt in der SM-Szene" von Claudia Schwarz, Florian Röthlin und Wolfgang Plaschg erscheint in der Herbstausgabe der "Sozialwissenschaftlichen Rundschau" (48. Jahrgang, Heft 3/2008, S. 122-141).
->   "Sozialwissenschaftliche Rundschau"
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Seit 1870er Jahren eine "Perversion"
Bis in die 1870er Jahre wurde Sadomasochismus nicht als "Erkrankung" wahrgenommen, sondern lediglich als Abweichung von der sexuellen Norm. Das wurde mit einer Publikation des Arztes Richard Freiherr von Krafft-Ebing anders: Er beschrieb erstmals sadomasochistisches Verhalten als "angeborene oder erworbene, perverse Vita sexualis" und prägte damit das für zumindest ein Jahrhundert aufrechte Verständnis von Sadomasochismus (SM) als Krankheit.

Erst in den 1960er Jahren holten vor allem Musiker und Schriftsteller SM aus der Tabuzone, woraufhin sich in allen großen "westlichen" Städten eine zunehmend offen agierende SM-Szene bildete. Sogar in Österreich entstanden Cafes und Vereine wie "Schlagartig", die sozusagen als Öffentlichkeitsarbeiter Vorurteile gegen den Sadomasochismus abbauen wollen.
->   Verein "Schlagartig"
Legitimation von Riten und Strukturen
Dennoch steht die Szene noch immer am stigmatisierten Rand der Gesellschaft. Die zentrale Bedeutung, die Gewalt, Unterwerfung und Dominanz im Sadomasochismus einnehmen, steht einer breiten Akzeptanz von SM als einer weiteren "Spielart" von Sexualität entgegen.

Die Wiener Soziologen Claudia Schwarz, Florian Röthlin und Wolfgang Plaschg wollten deshalb wissen, wie die SM-Szene ihre Riten legitimiert - und ob sie strukturell anders funktioniert als die "Mehrheitsgesellschaft".
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Teilnehmend beobachtet
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, machten sich die Forscher auf in zwei Wiener Treffpunkte von SM-Praktizierenden. Daraus entstanden zwölf Beobachtungsprotokolle, in die Gespräche mit den Anwesenden und Beschreibungen von Artefakten sowie Räumlichkeiten einflossen und die durch ein Interview mit einem langjährigen Szenemitglied ergänzt wurden.
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Eigener Jargon
Dass es sich tatsächlich um eine eigene Szene handelt, wird vorderhand einmal am Jargon deutlich, schreiben Schwarz, Röthlin und Plaschg in ihrer Studie. Er zeichnet sich durch ein eigenständiges Vokabular aus, das in speziellen Lexika und Websites erklärt wird.

Ins Auge sticht laut den Soziologen die häufige Verwendung von Fremdwörtern (beispielsweise "flagging" statt "schlagen") und Euphemismen: Was woanders eindeutig als Objekt zum alleinigen Zweck des Zufügens von Schmerz bezeichnet werden würde, gilt in der SM-Szene als "Spielzeug".
->   Online-Lexikon "Datenschlag"
Gewalt: Misslungene Kommunikation
Das mag man als reine Beschönigung verstehen, laut den Forschern sind die Umdeutungen aber nötig, um "den Praktiken ihren normabweichenden Charakter zu nehmen und sie als Mittel zum Lustgewinn einzusetzen".

Überrascht zeigten sich die Soziologen vom hohen Stellenwert, den Sprache und Kommunikation einnehmen. In der Szene werde Sadomasochismus auch als "gelungene sexuelle Kommunikation" (die immer auf gegenseitigem Einverständnis beruhen muss) bezeichnet, während Gewalt als "misslungen" aufgefasst wird.
Stabile Paarbeziehungen
Als soziologisch interessant beschreiben die Forscher die vielen stabilen Zweierbeziehungen, die in der SM-Szene durchaus üblich sind. Paare sind laut ihren Beobachtungen die Hauptakteure in SM-Interaktionen, die gegebenenfalls durch Freunde erweitert werden.
Starre Rollenkonstruktionen
Eine Parallele zur "Normal-Gesellschaft" sind die Rollenkonstruktionen: Das starre Dominanz-/Unterwerfungsschema strukturiert die SM-Szene, wie es die Geschlechterrollen noch in vielen Bereichen der restlichen Gesellschaft tun.

Interessant wird es bei Kollisionen zwischen den beiden Welten: So wurde männlicher Masochismus lange Zeit als "Verweiblichung" interpretiert und heute noch äußern devote Männer die Angst, von ihren - ebenfalls in der SM-Szene aktiven - Geschlechtsgenossen abgewertet zu werden. Umgekehrt kann es für Frauen ein Problem darstellen, zu dominant aufzutreten - einfach, weil es nicht zu ihrer gesellschaftlich definierten Rolle passt.
Konflikte gemildert, aber nicht verschwunden
"Die Vermischung von Sexualität, Macht und Gewalt" stellt noch immer die zentrale Problematik der SM-Szene dar, schreiben Claudia Schwarz, Florian Röthlin und Wolfgang Plaschg in ihren Schlussfolgerungen.

Die Konflikte mit der "Normal-Gesellschaft" sind dadurch weiterhin nicht vermeidbar, auch wenn sie durch den derzeit hochgehaltenen Wert der individuellen Freiheit gemildert werden, so die Forscher abschließend.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 29.9.08
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01.01.2010