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"Embedded Scientists": Heiße Debatte in USA  
  Die USA führen seit 2003 Krieg gegen den Irak, seit 2001 sind Truppen in Afghanistan aktiv. Um erfolgreich vorgehen zu können, bindet das amerikanische Verteidigungsministerium auch Sozialwissenschaftler in seine Operationen ein. Besonders Anthropologen sollen den Truppen vor Ort helfen, etwa gefundene Literatur und - scheinbare - Waffen zu interpretieren.  
Kritische Wissenschaftler sehen eine solche Einbindung als ethisch nicht vertretbar und rufen Kollegen zum Boykott auf, berichtet "Nature". Das Verteidigungsministerium hat unterdessen die National Science Foundation als Partner gewonnen, um mehr Forscher für Themen wie islamischen Radikalismus zu gewinnen.
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Der Beitrag "Military Research: The Pentagon's culture wars" von Sharon Weinberger ist in Band 455 von "Nature" erschienen (2. Oktober 2008, S. 583-585, doi:10.1038/455583a).
->   Zum Abstract
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Kriegspropaganda oder doch Unterrichtsmaterial?
US-Truppen finden bei einer Hausdurchsuchung Schriften, die sie für jihadistische Literatur halten, und eine illegale Waffe. Sie verhaften die männlichen Hausbewohner - um sie kurz danach wieder freizulassen: Anthropologen, die vor Ort die Truppen begleiten, haben den US-Kommandanten informiert, dass es sich bei den Unterlagen um Material für den Religionsunterricht handelt und bei der Waffe um ein Gewehr, das Bienenzüchter in dieser Gegend häufig verwenden, um Vögel abzuschießen.

Für dem Militär freundliche gesinnte Forscher ist diese Episode ein Vorzeigebeispiel, wie Sozialwissenschaftler dabei helfen können, unnötige Konflikte und eventuell sogar Tote zu verhindern. Kritischen Geistern stellt es bei der Vorstellung, dass Forscher ihr akademisches Wissen dazu nutzen, der US-Army zu helfen, die Haare auf.
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"Human Terrain Teams" (HTT)
Die Forscher im Beispielfall waren teil eines "Human Terrain Teams" (HTT), einer Sondereinheit, die aus Sozialwissenschaftlern besteht und die US-Truppen vor Ort bei Operationen begleitet. Laut offiziellen Angaben gibt es derzeit 16 solche HTTs mit jeweils fünf Mitgliedern im Irak und Afghanistan, die durch Kollegen "zu Hause" unterstützt werden. 2007 gab das Pentagon laut eigenen Angaben 60 Millionen Dollar für dieses "Human Terrain System" aus.
->   Video der "New York Times" über ein HTT in Afghanistan
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Kritik seitens der Wissenschaftler
Innerhalb der Sozialwissenschaften und insbesondere der von der Armee begehrten Anthropologie ist eine heftige Debatte entstanden, ob sich Forscher in den Dienst des Militärs begeben dürfen. Die American Anthropological Association (AAA) etwa sprach sich gegen eine Involvierung ihrer Mitglieder in kriegerische Aktionen aus: Dadurch würden Wissenschaftler "sehr wahrscheinlich in Situationen kommen, die mit dem Ethik-Code der AAA nicht vereinbar sind".

Zusätzlich gründete sich 2007 ein "Netzwerk kritischer Anthropologen", das sich gegen die Einbeziehung ihrer Fachkollegen in Militärmanöver aussprach.
->   Network of Concerned Anthropologists
Umstrittene Rolle der Forschung
Hinter den Protesten steckt einerseits das Selbstverständnis der meisten Sozialwissenschaften: Nicht den Mächtigen müsse man Wissen zur Verfügung stellen, sondern den "Forschungsobjekten" - also der Bevölkerung - zu einer Stimme verhelfen.

Andererseits könne, so das Argument, Forschung nicht ohne Bewusstsein für die Vergangenheit betrieben werden. Und da wisse man eben von Anthropologen, die im 2. Weltkrieg auch über "rassenspezifische Biowaffen" geschrieben haben und Widerstandsnester ausheben halfen, so "Nature".
Anthropologie "keine linke Religion"
Dem gegenüber steht eine Gruppe von Anthropologen, die sich Montgomery McFate formiert hat und offen für einen Einsatz von Sozialwissenschaftlern als Militärberater ausspricht.

Für sie ist das Teil einer angewandten Anthropologie, die "keine linke Religion sein dürfe", wie die Forscherin in "Nature" zitiert wird.
->   McFate zu "Anthropology and Counterinsurgency" (Military Review)
Pentagon nicht attraktiv als Arbeitgeber
Während es bisher keine glaubwürdigen Auswertungen gibt, inwieweit der Einsatz von "Human Terrain Teams" die Kriegsführung der USA beeinflusst hat, hat das Pentagon eher das Problem, für Sozialwissenschaftler kein sehr attraktiver Arbeitgeber zu sein.

Um geeignetes Personal zu bekommen, hat es deshalb in den vergangenen Jahren versucht, seine Zusammenarbeit mit Universitäten zu intensivieren: Das Projekt "Minerva" sollte für das Pentagon interessante Forschungsarbeiten - von chinesischer Militärtechnologie bis hin zu islamischem Radikalismus - finanzieren, stieß aber auf wenig Gegenliebe seitens der Universitäten.
->   "Wired"-Blogeintrag zum Projekt "Minerva"
Export des "Human Terrain System" nach Europa
Besonders glücklich ist das Pentagon daher über die heuer unterzeichnete Vereinbarung mit der National Science Foundation (NSF), laut der "der Informationsfluss zwischen Sozial- und Verhaltenswissenschaften und dem Verteidigungsministerium verbessert werden soll", wird das Memorandum in "Nature" zitiert. Das Budget dürfte bei rund 50 Millionen Dollar im Jahr liegen.

Ob und welche Erfolge diese Initiativen bringen werden, lässt sich heute noch nicht abschätzen. Das Pentagon jedenfalls erzählt von Rückmeldungen anderer NATO-Staaten, die ebenfalls das "Human Terrain System" der in Truppenbewegungen eingebetteten Sozialwissenschaftler implementieren wollen. Ob sie es mit der europäischen Wissenschaftstradition leichter haben werden, bleibt allerdings abzuwarten.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 6.10.08
->   American Anthropological Association (AAA)
->   Pentagon
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01.01.2010