News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Die Vorurteile hinter der Vorurteilsfreiheit  
  Wann widerfährt einem Rassismus? Die durchschnittlichen Österreicher dürften damit - zumindest passiv - keine Erfahrung haben, da sie selbst zur weißen Mehrheit gehören. In der multiethnischen Gesellschaft der USA sieht das schon anders aus.  
Hier haben Psychologen nun einen besonders subtilen Mechanismus von Rassismus untersucht: Wenn Weiße die Hautfarbe ihres schwarzen Gegenüber aus "antirassistischen" Gründe nicht thematisieren, kann genau dies als Ausdruck von Vorurteilen empfunden werden.

Über diese dialektischen Zusammenhänge berichten zwei Studien von Psychologiegruppen, an beiden war Evan Apfelbaum von der Tufts University beteiligt.
...
Die Studie "Seeing Race and Seeming Racist? Evaluating Strategic Colorblindness in Social Interaction" ist im "Journal of Personality and Social Psychology" (Bd. 95, S. 918) erschienen, die Studie "Learning (Not) to Talk About Race: When Older Children Underperform in Social Categorization" im Journal "Developmental Psychology" (Bd. 44, S. 1513). Beide Zeitschriften werden von der American Psychological Association herausgegeben.
->   American Psychological Association
...
Strategische Farbenblindheit
Eigentlich ist es gut gemeint, wenn weiße Menschen bei der Charakterisierung von Menschen deren andere Hautfarbe nicht ansprechen. Im Gegensatz zu offenen Rassisten, die etwa "schwarz" mit "Drogendealer" gleichsetzen, versuchen sie, die Hautfarbe erst gar nicht als Kategorie zu benutzen.

Dass diese "strategische Farbenblindheit" auch nach hinten losgehen kann, haben nun die US-Psychologen in einer Reihe von Experimenten bewiesen.
Frage-Antwort-Spiel zur Identität von Personen
Bild: Flickr.com/American Psychological Association
Um Bilder wie diese ging es bei dem Test
An einer Studie nahmen rund 100 weiße Studenten gemeinsam mit einer - entweder weißen oder schwarzen - Partnerin teil, die ihnen als vermeintliche Co-Probandin vorgestellt wurde.

Die Paare mussten dann eine Art Kinderspiel spielen, bei dem es darum geht, Personen möglichst schnell durch abwechselnde Ja-Nein-Fragen zu erraten (Ist die Person eine Frau oder ein Mann? Blond oder brünett? etc.).

Herauszufinden waren 30 auf Porträtfotos abgebildete Menschen, die sich in Hautfarbe, Geschlecht und Hintergrundfarbe voneinander unterschieden.
Gebrauch der Kategorie "Hautfarbe" hängt vom Kontext ab
Obwohl es eine gute Strategie ist, nach der Hautfarbe zu fragen, haben das die Studienteilnehmer nur sehr unterschiedlich oft getan. Saßen sie einer weißen Partnerin gegenüber, gebrauchten sie in knapp 90 Prozent aller Fälle die Frage, war sie schwarz, aber nur zu zwei Drittel.

Ein signifikanter Unterschied zeigte sich auch, wenn eine schwarze Partnerin als erste mit den Fragen dran war. Fragte sie selber nach der Hautfarbe, taten dies im Gegenzug auch 95 Prozent der Studienteilnehmer. Fragte sie hingegen nie nach der Hautfarbe, kamen nur zehn Prozent der Teilnehmer auf die Idee. Ihre Aktionen orientierten sich also offensichtlich an sozial erwünschtem Verhalten.

Für den an den Studien beteiligten Psychologen Samuel Sommers von der Tufts University ist der Zusammenhang klar: "Weiße vermeiden das Thema Rasse, weil sie Sorge haben schlecht auszusehen, wenn sie zugeben, andere Menschen dadurch zu charakterisieren."
Scheitern einer Strategie
Und wie beurteilen die Schwarzen diese Strategie? Das haben die Psychologen mit einem weiteren Versuch untersucht, bei der 74 Teilnehmer das Verhalten bei der ersten Studie bewerteten. Schnell zeigte sich hier das Scheitern der "strategischen Farbenblindheit": Schwarze betrachteten die Nicht-Thematisierung der Hautfarbe durch die Weißen nämlich erst recht als Ausdruck von Vorurteilen.

Selbst in einer Versuchsanordnung, wo sie das Fragespiel ohne Ton gezeigt bekamen, schätzten sie die "Hautfarbenverweigerer" als überwiegend "unfreundlich" ein - alleine aufgrund der Beurteilung ihrer Gesten.

"Unsere Ergebnisse zeigen ganz deutlich: Wenn die Hautfarbe eindeutig relevant ist, sollten es sich Weiße zweimal überlegen, ob es wirklich eine weise soziale Strategie ist, sie nicht zu erwähnen", meint Evan Apfelbaum von der Tufts University.
Soziale Normen, die mit zehn Jahren gelernt werden
Dass diese Sozialstrategie schon sehr früh entwickelt wird, haben die Psychologen in einer zweiten Versuchsreihe gezeigt. Dabei wurden zwei Kindergruppen verglichen - eine bestehend aus Acht- und Neunjährigen, die andere aus Zehn- und Elfjährigen -, die ebenfalls das Frage-Antwort-Spiel spielten.

Den Kindern wurde gesagt, dass sie umso mehr Punkte bekommen würden, je weniger Fragen sie bis zur Identifizierung der Person brauchen.

Es zeigte sich, dass die älteren Kinder schlechter abschnitten als die jüngeren - und zwar weil sie wie die zuvor untersuchten Erwachsenen selten nach der Hautfarbe fragten. Bei einem Kontrollversuch mit ausschließlich weißen Gesichtern waren die älteren Kinder hingegen wie erwartet besser als die jüngeren. Die Kinder hatten also offenbar um das zehnte Lebensjahr die sozial erwünschte Norm erlernt, Hautfarbe nicht zur Unterscheidung von Menschen heranzuziehen.
Kein Freibrief für Rassisten
Mit ihrer Studie wollen die Psychologen offen bekennenden Rassisten keinen Freibrief ausstellen, wonach jedes Verhalten quasi gleich schlimm für die Betroffenen sei.

"Unsere Ergebnisse bedeuten auch nicht, dass alle, die nicht über Rasse sprechen, Rassisten sind. Im Gegenteil. Die meisten sind gut meinende Menschen, die glauben, dass ihre 'Farbenblindheit' der kulturell richtige Weg ist zu handeln. Wie wir gezeigt haben, kann eine völlige Negation aber manchmal mehr zwischenmenschliche Probleme verursachen als lösen", erklärt Evan Apfelbaum.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 10.10.08
->   Evan Apfelbaum, Tufts University
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Fremdenfeindlichkeit: Kultur dient als Deckmantel
->   Migration führt zu "hybrider" Gesellschaft
->   Keine wissenschaftliche Grundlage für Rassismus
->   Creative Commons Nutzungsrechte des verwendeten Bildes
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010