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90. Geburtstag des Philosophen Louis Althusser
Eine Bestandsaufnahme seines Denkens
 
  Louis Althusser war ein wesentlicher Repräsentant des französischen Strukturalismus, den er mit dem Marxismus verbinden wollte. Aufsehen erregte er durch die Ermordung seiner Frau Helene. Am 16. Oktober wäre Althusser 90 Jahre alt geworden.  
Philosophie als theoretischer Klassenkampf
Die Formung des menschlichen Individuums durch die Staatsmacht stand im Zentrum des Denkens von Althusser. Er analysierte die Abhängigkeit des Einzelnen von den ökonomischen und ideologischen Strukturen, die das kapitalistische System ausgebildet hat.

Der akademischen Philosophie stand Althusser kritisch, ja destruktiv gegenüber; für ihn bedeutete Philosophie "Klassenkampf in der Theorie".
Biografie
Geboren wurde Althusser am 16. Oktober 1918 in der Nähe von Algier als Sohn einer bürgerlichen Familie, die später aus beruflichen Gründen nach Lyon zog. Im 2. Weltkrieg geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft, die fünf Jahre dauerte.

Nach dem Krieg studierte er Philosophie und lernte seine spätere Frau Helene Rytman kennen. Er trat in die Kommunistische Partei ein und lehrte an der Ecole Normale Supérieure.

Aufsehen erregte er mit seiner Neulektüre des Marxismus, den er in seinen Büchern "Für Marx" und "Das Kapital lesen" strukturalistisch interpretierte.
Leben als Selbstzerstörungsprozess
In diesen Jahren litt Althusser bereits an schweren Depressionen, die er stationär behandeln lassen musste. Trotz seiner Rolle als "Stardenker" des Strukturalismus, die er mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan teilte, war sein "Leitmotiv" die Einsamkeit, die er seit frühester Jugend kannte.

Begleitet wurde dieses Grundgefühl von der Überzeugung einer Nichtidentität ("Da ich nicht wirklich existierte, war ich im Leben nur ein Kunstgriff-Wesen, ein Nichts-Wesen, ein Toter").

In seiner Autobiografie "Die Zukunft hat Zeit" bezeichnete Althusser sein Leben als einen Selbstzerstörungsprozess, der seinen Höhepunkt 1980 in der Ermordung seiner Frau Helene fand. Er selbst konnte sich an die Tat nicht erinnern und wurde in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen und nach drei Jahren entlassen. Als bereits subjektiv Toter verstarb er 1990.
Für die Wissenschaftlichkeit des späten Marx
Für Althusser war Karl Marx der erste Theoretiker, der den Gesamtzustand des Kapitalismus wissenschaftlich interpretierte. In den 1960er Jahren entwickelte er die These vom epistemologischen (wissenschaftstheoretischen) Bruch im Werk von Marx.

Diese These besagt, dass sich Marx um 1845 von seinen humanistischen Frühschriften abgewandt habe, um zur Wissenschaft vorzudringen. An die Stelle von Begriffen wie "Entfremdung" und "der Mensch" traten Begriffe wie "Produktionsmittel", "Produktionsverhältnisse" und "Ideologie".
Gegen den Humanismus
Gemeinsam mit seinem Schüler Michel Foucault bekämpfte Althusser den Humanismus - "alle diese Herzensschreie der menschlichen Person". Speziell wandte er sich gegen Jean-Paul Sartre, der den Marxismus um eine "konkrete Anthropologie" - den Existenzialismus - erweitern wollte.

Dagegen stellte er den Antihumanismus, der die Autonomie des Individuums leugnet: Es wird vielmehr von verschiedenen Strukturen bestimmt.
Analyse der Ideologie
Die Revolte von Mai 1968 und die Kritik seines Schülers Jacques Ranciere veranlassten Althusser, den Schwerpunkt seiner Theorie zu verlagern. Die Kritik richtete sich gegen die Überbewertung der Wissenschaftstheorie.

Althusser analysierte nunmehr die Rolle der "ideologischen Staatsapparate". Darunter verstand er Institutionen wie Schule, Kirche, oder Familie, die individuelle Identität überhaupt erst konstituieren.
Althusser und Spinoza
Althusser knüpft an eine Frage an, die bereits der Philosoph Baruch de Spinoza im 17. Jahrhundert gestellt hat. Sie lautet: "Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als wäre sie ein Glück?"

Althusser übernahm diesen Gedanken und fragte sich, wie es möglich sei, dass gleichsam "jedes Subjekt reibungslos funktioniere, ohne dass er einen Gendarmen um sich habe".
Das Subjekt als Untertan
Im Gegensatz zu Michel Foucaults Repressionsthese, die diese Institutionen als Agenten einer repressiven Disziplinierung ansah, machte Althusser eine erstaunliche Beobachtung. Die Individuen, die von verschiedenen Ideologien geformt werden, begrüßen diesen Unterwerfungsakt.

Sie internalisieren die vorgegebenen Normen und Werte, erliegen der Illusion, sie selbst geschaffen zu haben und engagieren sich dafür. Das Subjekt ist somit für Althusser ein Untertan, der glaubt, freiwillig zu handeln.
Althussers Aktualität
Mit dieser Konzeption hat sich Althusser viele Feinde gemacht: Einerseits die Vertreter einer humanistisch/existenzialistischen Philosophie, andererseits die Propagandisten der Repressionstheorie, die den Menschen zum hilflosen Opfer der herrschenden Verhältnisse degradiert.

Die in Wien lehrende Philosophin und Publizistin Isolde Charim, Autorin einer Studie über Althusser, beschreibt in einem Gespräch den Stellenwert Althussers in der gegenwärtigen philosophischen Debatte:

"Althussers Theorie ist in der akademischen Philosophie weitgehend vergessen. Sie ist kein Heilsversprechen, sondern eine Theorie, die nicht mehr an einen Befreiungsschlag glaubt, der die ideologische Entfremdung des Individuums aufhebt. Das ist heute in den Kulturwissenschaften, wo er eine zentrale Stellung hat, ein wesentlicher Gedanke".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 15.10.08
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Literaturhinweise
Isolde Charim: "Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologietheorie", Passagen Verlag
Robert Pfaller: "Althusser. Das Schweigen im Text", Wilhelm Fink Verlag
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->   Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate
->   Louis Althusser Archive
->   Antonio Negri: Die Entwicklung des Denkens beim späten Althusser
->   Philosophy of the Encounter, Verso Books
 
 
 
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01.01.2010