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Studie über Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg  
  Vergewaltigungen waren im Zweiten Weltkrieg ein Massenphänomen. Bis heute wurden sie tabuisiert. Ihre seelischen Folgen werden jetzt erstmals in einer psychotraumatischen Studie aufgearbeitet.  
Historiker gingen von bis zu 1,9 Millionen vergewaltigten deutschen Frauen allein in der ersten Hälfte des letzten Kriegsjahres 1945 aus.

Zusammen mit dem Verein "medica mondiale" sollen im Rahmen der Studie der Universität Greifwald zunächst vergewaltigte Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Brandenburg befragt werden.
Großes Tabu
"Dreiundzwanzig Soldaten hintereinander. Ich musste im Krankenhaus genäht werden. Nie wieder will ich etwas mit einem Mann zu tun haben." So beschreibt die Publizistin Ursula von Kardorff in ihren "Berliner Aufzeichnungen" die Erlebnisse einer Freundin im September 1945.

Kriegsvergewaltigungen gehören bis heute zu den großen Tabus des Zweiten Weltkrieges. In einzelnen literarischen Werken, Tagebuchaufzeichnungen oder von Donnerstag an mit dem Kinofilm "Anonyma" rückt das Thema punktuell in die Öffentlichkeit.

"Eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der durch Vergewaltigungen ausgelösten Traumatisierungen und der Langzeitfolgen fehlt bis heute", sagt der Psychiater der Greifswalder Universität, Philipp Kuwert.
Erste Studie zum Thema
Das Schicksal von Hunderttausenden, wenn nicht sogar von fast zwei Millionen deutscher Frauen, die während des Zweiten Weltkrieges vergewaltigt wurden, soll nun erstmals untersucht werden.

Psychiater der Universität Greifswald starteten nun eine Studie, für die in den kommenden Monaten Vergewaltigungsopfer des Zweiten Weltkrieges befragt werden. Genaue Zahlen über die Vergewaltigungsopfer dieses Krieges gibt es nicht.

Nicht nur die Täter schwiegen, auch die Opfer redeten nicht - aus Scham oder Angst. Zudem war in der DDR eine Diskussion über Vergewaltigungen durch Rotarmisten staatspolitisch nicht gewollt. Doch Kuwert ist sich sicher: "Kriegsvergewaltigungen waren ein Massenphänomen und nicht nur in der Roten Armee zu finden."
Individuelle Bearbeitung und kollektive Erinnerung
Der Verein "medica mondiale", dessen Leiterin Monika Hauser für ihren 15-jährigen Hilfseinsatz für kriegsvergewaltigte Frauen in aktuellen Kriegsgebieten mit dem Alternativen Nobelpreis 2008 ausgezeichnet wird, will mit der Studie ein Tabu beseitigen und den betroffenen Frauen das Stigma nehmen.

Nur so würden individuelle Bearbeitung und kollektive Erinnerungskultur möglich. Die Frauen erführen so eine - wenn auch minimale - Gerechtigkeit, sagt Hauser.

Mit der Studie knüpfen die Greifswalder Forscher an eigene frühere Studien zur Traumatisierung von Kindersoldaten und Kriegskindern an. Danach reichen posttraumatische Belastungsstörungen zum Teil bis heute, mehr als 60 Jahre nach Kriegsende, in das Leben der Betroffenen hineinreichen
Vergewaltigung als Kriegsstrategie
Die Menschen litten unter einem unfreiwillig starken Erinnerungsdruck und unter "Flashbacks", in denen sich Betroffene immer wieder in den traumatisierenden Situationen erlebten, berichtet Kuwert. Sie vermieden eigentlich harmlose Reize. "Das geht soweit, dass Frauen das Ticken einer Standuhr nicht ertragen oder Sexualität im späteren Leben vollkommen meiden", erklärt Kuwert.

Die Ärztin Monika Hauser zieht Parallelen zwischen den Vergewaltigungen in heutigen Kriegen und denen während des Zweiten Weltkrieges. "Vergewaltigungen haben kriegsstrategische Bedeutung. Soldaten üben Macht und Rache aus. Sie verletzen den Feind, indem sie ihm die Frau nehmen."
Mit den Erlebnissen abschließen
Selbst 63 Jahre nach Kriegsende sei es für Therapie von kriegsvergewaltigten Frauen nicht zu spät, meint Kuwert. "Viele Traumatisierte haben am Ende ihres Lebens das Gefühl, nicht abschließen zu können."

Allein das Sprechen über die Erlebnisse habe einen "heilenden Effekt". Die Initiatoren dringen auf die Entwicklung spezieller Therapien, auch in Pflege- und Altenheimen. Dort wirke das Tabu durch unkundige Behandlung bis heute nach.
Geplante Ausweitung der Studie
Die Studie konzentriert sich aus finanziellen Gründen zunächst auf Betroffene in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Brandenburg. Vergewaltigungen, so ist sich Kuwert sicher, habe es aber nicht nur in der russischen, sondern auch in den anderen Besatzungszonen gegeben.

Zusammen mit osteuropäischen Kollegen wollen die Forscher zudem im ukrainischen Donezk ein ähnliches Projekt starten, bei dem die sexualisierte Gewalt von SS-Soldaten und Offizieren gegenüber osteuropäischen Frauen thematisiert werden soll.

Martina Rathke, dpa, 20.10.08
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01.01.2010