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Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung
Zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918
 
  Vor neunzig Jahren ist der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen. Er hat nicht nur die Machtgefüge in Europa verändert und Millionen tote und verwundete Soldaten produziert. Er war auch ein unbarmherziger Krieg gegen Zivilisten. Der Fotohistoriker Anton Holzer hat diesen oft vergessenen Aspekt untersucht und in ost- und südosteuropäischen Archiven zahlreiche Bilddokumente gefunden. Das "Lächeln der Henker" ist auf einigen der Bilder zu sehen, die er in einem Gastbeitrag beschreibt.  
Das Lächeln der Henker
von Anton Holzer

Der Erste Weltkrieg gilt in populären Darstellungen - noch 90 Jahre nach seinem Ende - als heroischer Kampf, den bewaffnete Männer gegeneinander geführt haben. Tatsächlich aber handelt es sich um den ersten großen Krieg, der sich systematisch auch gegen die Zivilbevölkerung richtete.

Zehntausende unschuldiger Zivilisten wurden zwischen 1914 und 1918 im Osten und Südosten Europas als angebliche "Spione" und "Verräter" ohne Prozess am Galgen hingerichtet, Hunderttausende in Internierungs- und Arbeitslager ins Hinterland deportiert.

Ethnische Säuberungen waren Teil der Kriegsführung. Die Übergriffe waren systematisch geplant und offiziell angeordnet.
Schriftliche Quellenlage dürftig
Bis heute ist wenig über diesen brutalen Krieg hinter der Frontlinie bekannt. Die schriftliche Quellenlage ist dürftig.

In ost- und südosteuropäischen Archiven finden sich aber - von der Forschung bisher nicht beachtet - zahlreiche Fotografien, die die Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung in erschreckenden Detailaufnahmen zeigen.
Bilder dokumentieren das Grauen
 
Bild: Anton Holzer/Primus Verlag

Hinrichtung eines angeblichen "Spions" an der Ostfront, Polen 1916

Aufgenommen wurden die Bilder von Soldaten und Offizieren, die als Schaulustige und Voyeure Zeugen der Gewalttaten waren. Immer wieder stoßen wir auf ein- und dieselbe Szene: Henker und Schaulustige umringen den Getöteten und blicken erwartungsvoll und oft auch triumphierend in die Kamera.

Eines dieser Fotos ist im Juni 1916 in einem polnischen Ort entstanden (siehe Bild oben). Ein Mann in einen dunklen, vorne offenen Mantel wurde gerade hingerichtet. Er trägt eine ärmliche Hose aus gestreiftem Tuch, die um die Hüfte mit einer Schnur zusammengebunden ist.

Die Beine sind mit einem Strick gefesselt. Hinter dem Galgen drängen sich Zuschauer, zahlreiche Soldaten und wohl auch etliche Bewohner des Ortes, die den Mann womöglich gekannt haben.
Härte gegen "Spione" und Deserteure
Beim Hingerichteten handelt es sich - in der Sprache der österreichisch-ungarischen Propaganda - um einen "russischen Spion". Tatsächlich aber war er einer von tausenden Zivilisten an der Ost- und Südostfront, die im Ersten Weltkrieg ohne Gerichtsurteil und ohne Untersuchung von k.u.k. Soldaten am Galgen hingerichtet worden.

Er teilte dieses Schicksal mit zahlreichen andern Männern, Frauen (und sogar Kindern). Es brauchte nicht viel, um die unerbittliche Maschinerie der Militärjustiz in Gang zu setzen: Ein unbesonnenes Wort, eine missverständliche Geste, der Hinweis eines Denunzianten reichten aus, um die Beschuldigten an den Galgen zu bringen.

Die Härte der Militärjustiz richtete sich aber auch gegen die Soldaten in den eigenen Reihen, gegen tatsächliche und angebliche Deserteure, "Vaterlandsverräter" und Oppositionelle. Hunderttausende weitere Menschen wurden in Internierungs- und Arbeitslager ins Hinterland deportiert. Ethnische Säuberungen waren Teil der Kriegsführung. Die Übergriffe waren systematisch geplant und offiziell angeordnet.
"Verdächtige" Bevölkerungsgruppen im Visier
 
Bild: Anton Holzer/Primus Verlag

Ukrainischer (ruthenischer) Junge, wegen "Spionage" zum Tode verurteilt, aufgenommen im Juli 1915 in Ostgalizien

Die Militärbehörden gingen besonders brutal und rücksichtslos gegen jene Bevölkerungsgruppen vor, denen kollektiv "russophile" Neigungen, "Spionage" und "Kollaboration" mit dem Feind unterstellt wurden.

Die Gewalt richtete sich in den östlichen Gebieten der k.u. k. Monarchie, etwa im russischen Polen, in Galizien und der Bukowina gegen Ruthenen (Ukrainer), Polen und Juden, im Süden der k.u.k. Monarchie und in den eroberten Gebieten am Balkan gegen Serben, Montenegriner und Bosnier.

Aber auch Tschechen und Italiener gerieten ins Visier der Militärjustiz. Diese Bevölkerungsgruppen galten, vor allem in den ersten Monaten des Krieges, generell als "verdächtig". Die "Strafaktionen" und Repressalien gegenüber der Zivilbevölkerung nahmen derart drastische Ausmaße an, dass mit gutem Recht von einem systematischen Krieg gegen die Zivilbevölkerung gesprochen werden kann.

Wie viele Opfer dieser Krieg, der sich im Schatten des "großen Krieges" abspielte, forderte, ist bis heute nicht bekannt. Schätzungen zufolgen wurden allein in Galizien und Serbien an die 60.000 Menschen am Galgen hingerichtet.
Verdrängte Gewalttaten, die sehr sichtbar waren
Bild: Anton Holzer/Primus Verlag
Verhafteter Zivilist an deer Ostfront,
Originalbildtext: "Ein spionageverdächtiger Bauer"
Die Hinrichtungen, die nach dem Ende des Krieges so schnell in Vergessenheit gerieten, fanden keineswegs im Geheimen statt, sondern stets weithin sichtbar auf Dorfstraßen und öffentlichen Plätzen.

Nicht selten wurde die einheimische Bevölkerung aufgefordert, zum Schauplatz der Hinrichtung zu kommen. Sie sollte sehen, wie die Männer und Frauen, die des "Verrats" und der "Spionage" verdächtigt wurden, öffentlich an den Pranger gestellt wurden. Oft ließ man die Leichen tagelang an den Galgen, Bäumen oder Straßenlaternen hängen - zur Abschreckung und als Beweise für die wilde Entschlossenheit des Militärs, gegen Verdächtige mit äußerster Rücksichtslosigkeit vorzugehen.

Die Tötungen waren so zahlreich, dass sich in den Tagebuchaufzeichnungen von Soldaten und Offizieren immer wieder Hinweise auf die Allgegenwart des Galgens finden.
Kein Verbot für private Kriegsbilder
 
Bild: Anton Holzer/Primus Verlag

Erschießung von acht Zivilisten durch Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee an der Ostfront, Kowel, Wolhynien, Russland, 20. April 1916

Die Aufnahmen, die während der Hinrichtungen entstanden, stammen überwiegend von österreichisch-ungarischen Militärs, die den Szenen als Schaulustige beiwohnten. Sie hatten keinerlei Scheu, die Gewalttaten in privaten Knipserbildern festzuhalten.

Anders als im Zweiten Weltkrieg gab es im Ersten Weltkrieg - zumindest in den ersten beiden Jahren - kein offizielles Fotografierverbot, das den Soldaten solche "Erinnerungsbilder" untersagt hätte.

Die Bilder waren begehrt. Sie wurden für Freunde und Soldaten vervielfältigt. Manche dieser Fotografien wurden in Kriegsalben geklebt.
Auch Anklagen gegen die Kriegsgegner
Bild: Primus Verlag/Anton Holzer
Und so findet sich inmitten eines Albums, das die Soldaten an der Front zeigt, auch unvermittelt das Foto einer Hinrichtung. Die meisten der Bilder aber sind in loser Form überliefert, ohne Hinweis auf den Fotografen.

Gelegentlich gelangten die Aufnahmen auch in die Hände der gegnerischen Truppen: Sie wurden toten oder gefangenen Soldaten abgenommen oder wechselten im Gepäck der Deserteure die Frontlinie.

Auch diese Bilder wurden - als anklagende Dokumente der Grausamkeit des Kriegsgegners - vervielfältigt, manche von ihnen noch während des Krieges veröffentlicht.
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Alle Fotos stammen aus dem Buch "Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918", Darmstadt 2008 (Primus Verlag), von Anton Holzer.
->   Das Buch im Primus Verlag
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Perspektive der Täter
90 Jahre nach dem Ende des Krieges zeigen diese Bilder dem Betrachter zwar nur einen Teil der Realität, denn sie wurden praktisch immer aus der Perspektive der Täter aufgenommen. Dennoch sind sie wichtig.

In den Aufnahmen erhalten einige der Opfer zum ersten Mal ein Gesicht (wenn auch meist keinen Namen). Wir sollten uns mit diesen Bildern beschäftigen, denn die Männer, die sich als Henker und als Schaulustige unter dem Galgen versammelt haben, waren keine Fremden. Es waren unsere Groß- und Urgroßväter.

[7.11.08]
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Über den Autor
Anton Holzer, geb. 1964 in Südtirol, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie (in Innsbruck, Bologna und Wien), Dr. phil., ist Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte"
(www.fotogeschichte.info). Er arbeitet als freiberuflicher Fotohistoriker, Publizist und Ausstellungskurator in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Fotografie- und Kulturgeschichte. Im Primus Verlag erschien 2007 "Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg", ausgezeichnet mit dem Deutschen Fotobuchpreis 2008.
->   Anton Holzer
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01.01.2010