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Wilhelm II: Historiker streiten über deutschen Kaiser  
  Wilhelm II. ist unter den Männern an der Spitze des Deutschen Reiches international von herausragendem Interesse - nur über Adolf Hitler ist mehr geschrieben worden als über diesen Kaiser.  
Das Interesse bestätigen drei neue Bücher - erschienen vor dem 9. November, an dem sich sein Entschluss zur Abdankung nach dreißig Jahren auf dem Thron zum 90. Mal jährt.

Das Interesse an ihm seit dem verlorenen Krieg 1914-1918 gilt vor allem einerseits seiner politischen Bedeutung einschließlich der Frage seiner Mitverantwortung am Ausbruch des Kriegs, andererseits seiner schillernd-exzentrischen und widersprüchlichen Persönlichkeit. In seiner Gesamtbeurteilung ist sich die Historikerzunft nicht einig.
Drei neue Bücher
Dies zeigen auch die drei neuen Bücher. Das am meisten beachtete ist der dritte, abschließende Band der 1993 begonnenen Biografie des deutsch-britischen Historikers John C.G.Röhl.

Anders als Röhl, der Wilhelm fast ausschließlich negativ sieht, urteilen der Historiker und Publizist Eberhard Straub (Berlin) und englische Geschichtswissenschaftler Christopher Clark (Cambridge) positiver oder differenzierender und abwägender.
Wilhelminische Epoche ...
Nach Einschätzung Straubs ("Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit") gehören die Jahre von 1888 - Thronbesteigung des damals 29 Jahre alten Wilhelm - bis 1913 neben der Zeit der Reformation und der Goethes zu den großartigsten Epochen in der neueren deutschen Geschichte - in den Wissenschaften, Künsten, der Technik und Wirtschaft.

"Das ist nicht allein das Verdienst des Kaisers", schreibt er dazu. "Aber er hielt keine Entwicklung auf, regte an oder ließ sich anregen und nach anfänglichem Schwanken überzeugen."
... mit demokratischem Zug?
Zurecht werde die Epoche die Wilhelminische genannt - Wilhelm "Ausdruck der öffentlichen Seele, der kollektiven Kultur der Deutschen".

Für den Autor macht sich in der "Veräußerlichung" des sein Schloss oft verlassenden Monarchen, der die Spitzen der Behörden und Männer in Wissenschaft, Industrie und Handel kennenlernt - und sie ihn -, ein "neuer, sehr demokratischer Zug bemerkbar".

Allgegenwärtige Bilder von ihm sind Teil der "Veräußerlichung". "Kein Monarch und kein Deutscher, nicht einmal Marlene Dietrich oder Adolf Hitler, wurden so oft fotografiert."
Oder doch der Vorbote Hitlers?
Clark ("Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers") betont die bis heute kontroverse Beurteilung der Persönlichkeit Wilhelms II. als Reiz für neue Forschungen.

Clark nennt als Beispiel für Bandbreite der Beurteilungen Röhl, für den Wilhelm sogar der "Vorbote Adolf Hitlers" war, und den kürzlich gestorbenen Kultursoziologen Nicolaus Sombart, der in dem Kaiser den wohlwollenden und charismatischen Praktiker einer universalen Monarchie sah.

Eine Rehabilitation Wilhelms hat Clark nicht geschrieben, aber er will "Verunglimpfung und Verständnis wieder in ein angemessenes Verhältnis zueinander bringen".
Kaiser ohne konzises Programm
Er hält ihn für eine komplexe Persönlichkeit - einen intelligenten Menschen, keineswegs unbedeutend, ausgestattet jedoch mit einem schlechten Urteilsvermögen, der zu taktlosen Ausbrüchen und kurzlebiger Begeisterung tendierte, eine ängstliche, zu Panik neigende Gestalt, unfähig, ein eigenes konzises Programm durchzuhalten.

Seine Interventionen in die Außenpolitik waren nach dem Urteil des englischen Professors längst nicht so schädlich wie oft behauptet. Zu seiner Rolle in den Wochen vor Kriegsausbruch bemerkt er, dass er Deutschland zwar nicht in einen kontinentalen Krieg verwickeln wollte, doch einige der Entscheidungen traf, die ihn herbeiführten.
Relativierung seines Antisemitismus
Beide Autoren relativieren die extrem judenfeindlichen Äußerungen im Exil in Holland. Straub macht unter anderem geltend, dass der Kaiser in seiner Regierungszeit nie versucht habe, die Freiheit der Juden einzuschränken. Er habe gerade auch unter ihnen Bewunderer gefunden.

Clark erwähnt, dass er sieben Juden in den Adelsstand erhob und mit einigen prominenten Juden eng befreundet war. Andererseits habe er immer die damals unter den deutschen und anderen europäischen Eliten verbreiteten antisemitischen Vorurteile geteilt.

Das Exil war für ihn eine neue Situation. Tagtäglich mit den Konsequenzen seines Scheiterns konfrontiert fand er da "in den gehässigen Wahnvorstellungen des rassistischen Antisemitismus die gesuchten, einfachen Antworten auf die schwierigen Fragen, die ihm keine Ruhe ließen", schreibt Clark dazu.

Rudolf Grimm, dpa, 3.11.08
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Die Bücher
Eberhard Straub: Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne, Landtverlag, Berlin; Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, Deutsche Verlags-Anstalt, München; John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900 - 1941 C.H. Beck, München.
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01.01.2010