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"Verwandt ist man immer"
Ethnologin Rosenbaum über das Funktionieren von Familien
 
  Zwar finden sich im Chronikteil von Medien immer wieder blutig ausgegangene "Familientragödien" und auch die Wissenschaft hat sich viele Jahre mit dem "Zerfall der Familie" beschäftigt: Im Großen und Ganzen funktioniert das Modell des Zusammenlebens von zwei oder drei Generationen aber noch immer.  
Das meint zumindest die Europäische Ethnologin Heidi Rosenbaum von der Universität Göttingen, die anlässlich einer Buchpräsentation in Wien ist.

Der Hauptgrund dafür liegt laut der Expertin in der Sicherheit, die "Familie" den Beteiligten bietet - und zwar gleichgültig ob im klassischen Sinn ist oder in den vielen anderen Lebensformen, die sich mittlerweile gebildet haben.
Umfragen zeigen, dass sich besonders junge Menschen nach traditionellen Werten sehnen wie z.B. Familie. Warum ist dieses Modell des Zusammenlebens so attraktiv?

Eltern sind heute oft nicht mehr autoritäre Figuren wie zu meiner Generation. Es gibt viele Junge, die ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis zu ihren Eltern haben und dadurch ein Lebensmodell kennengelernt haben, das sie akzeptieren.

Dass 15- oder 16-Jährige, von denen man eigentlich annehmen sollte, dass sie in schwerer Konfrontation mit ihren Eltern stehen und von etwas anderem träumen, sich dennoch nach Familie sehnen, hat etwas mit einer beständigen Konstante zu tun: Jenseits allen Ärgers und Zoffs, den man mit seinen Eltern hat, weiß man, dass man angenommen ist.
Worin besteht diese Konstante genau?

Ich will nicht idealisieren, aber: Wenn Familie gut läuft, und das tut sie in der Mehrzahl aller Fälle, dann bekommt man Verlässlichkeit, Zuwendung, Solidarität, alles Dinge, die einem als heranwachsender Mensch Sicherheit geben. Und von so einer Basis aus kann man agieren und - pathetisch gesagt - den Herausforderungen des Lebens begegnen.

Ich betone: wenn es gut läuft. Es gibt bedauerlicherweise sehr viele Fälle, wo es nicht gut läuft. Wenn Jugendliche in solchen Fällen noch immer an die Familie als Wichtigste glauben, dann ist das ein Ideal, das sie vielleicht aus der Lektüre haben oder durch andere Vorbilder. Sie hoffen, es für sich selbst mit einer eigenen Familie realisieren zu können.
Warum werden Werte wie Sicherheit weiter überwiegend in der Familie gesucht und nicht z.B. in Freundschaften?

Das schließt sich nicht aus. Wir haben bei Untersuchungen festgestellt, dass Menschen mit vielen Freundschaften auch viele Verwandtschaftsbeziehungen haben. Das hat mit Offenheit zu tun, wer offen ist für Verwandte, ist es tendenziell auch für Freunde.

Es gibt sicher Phasen im Leben, wo Freunde wichtiger sind. Das ändert sich oft in dem Moment, wo man selber Kinder hat, und die Kinder ihre Großeltern brauchen. Nicht unbedingt als Hilfe in allen Lebenslagen, sondern wo man selber merkt, dass man in einer Generationenabfolge steht - als mittlere Generation.

Wenn man vorher keine gute Beziehung hatte zu den eigenen Eltern, verbessert sie sich dann oft. Vielleicht auch weil einem dämmert, was sie alles für einen getan haben, um selber groß zu werden.
Was machen da die vielen kinderlosen Singles, die es zumindest in urbanen Räumen immer häufiger gibt?

Erstens: Single heißt nicht unbedingt beziehungslos. Was sicher zunimmt, sind Kinderlose, und für die kann das vielleicht irgendwann zum Problem werden, etwa wenn sie pflegebedürftig sind. Deswegen ist es wichtig, Verwandtschaftsbeziehungen zu den sogenannten Lateralverwandten zu pflegen, also zu Brüdern, Schwestern, Cousins etc., Netzwerke zu schaffen jenseits der Freundschaften.

Warum eigentlich?

Es gibt sicher Einzelfälle, bei denen Freundschaften auch halten, aber gerade in prekären Situation sind Verwandtschaftsbeziehungen sehr leistungsfähig und stabil. Das hängt natürlich immer von einem selbst ab, wie viel man selber in die Beziehungen investiert hat. Der Verpflichtungsgrad in der Familie ist aber generell sehr hoch. Im Gegensatz zu Freundschaften kann man Verwandtschaften nicht aufkündigen. Verwandt ist man immer.
Ist die Familie also noch immer die Keimzelle des Staates?

Ich würde sagen: Familie ist die Grundlage der Gesellschaft, weil sie die nächste Generation reproduziert - egal was Familie im Einzelfall bedeutet. Wir sehen ja heute, dass eine ungeheure Vielfalt an Lebensformen existiert, wo das klassische Modell - verheiratet plus Kinder - nur eine Variante ist. Andere Formen treten daneben: Alleinerziehende, vor allem Frauen, aber auch Männer. Dann die Patchworkfamilien, zu einem geringen Prozentsatz gibt es Wohngemeinschaften und natürlich jede Menge Unverheiratete mit Kindern.
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Präsentation von drei Büchern zum Thema
Die Institute für Europäische Ethnologie bzw. Geschichte der Universität Wien sowie das Österreichische Institut für Familienforschung stellen drei Bücher zum Thema "Vom 'Zerfall der Familie' zur Netzwerkanalyse. Verwandtschaft als Thema der Familienforschung" vor.
Zeit: 5.11.08, 17.30 Uhr
Ort: ÖIF, Grillparzerstraße 7/9, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung
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Welche Unterstützung geben sich die Generationen in der Familie?

Viele junge Mütter brauchen oft ihre eigenen Mütter zur Kinderbetreuung. Dazu kommt die finanzielle Unterstützung der Großeltern. Nicht erst beim Erben, sondern schon vorher gibt es Taschengeld für die Enkelkinder oder Hilfe bei Hausbau und Wohnungskauf für die Kinder. Zwischen den drei Generationen läuft natürlich viel emotionale Unterstützung, aber auch an Hilfeleistung. Denken Sie an die Pflege der älteren Generation. Zwischen 75 und 80 Prozent der Pflege wird von Familienmitgliedern geleistet, und da wiederum vor allem von den Frauen.
Frauen verrichten überhaupt die meiste Arbeit in der Verwandtschaft.

Ja, in der Wissenschaft werden sie deshalb auch als "kin-keeper" bezeichnet, also diejenigen, die die Verwandtschaft organisieren, telefonieren, an die Geburtstage denken etc. Sie tun alles, was wichtig ist, um in Kontakt zu bleiben.

Warum machen das die Frauen eigentlich?

Zum einen hat das mit der Rolle zu tun, in die sie sozialisiert werden, zum anderen sicher auch mit ihrem Wissen, darauf angewiesen zu sein. Gerade bei Frauen, die in der Kinderbetreuung stark abhängig sind von Verwandten, tradiert sich das Verhalten.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 5.11.08
->   Heidi Rosenbaum, Uni Göttingen
->   Österreichisches Institut für Familienforschung
->   Institute für Europäische Ethnologie, Universität Wien
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01.01.2010