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Gehirnforscher über "Aufklärung Zweipunktnull"  
  Die zeitgenössische Hirnforschung hält brisante Herausforderungen für Ethik, Rechtssprechung und Menschenbild bereit. Dies meint der deutsche Philosoph Thomas Metzinger in einem Interview.  
Sie sind einer der wenigen deutschsprachigen Philosophen, die sich ernsthaft mit den Neurowissenschaften beschäftigen. Warum sind die für Sie so wichtig?

Thomas Metzinger: Zum Beispiel, weil man mit ihrer Hilfe den Raum möglicher Lösungen für klassische philosophische Probleme verkleinert. Was wir im Moment erleben, ist so etwas wie eine neue Phase der Aufklärung. Etwas, was ich die naturalistische Wende im Menschenbild nenne oder "Aufklärung 2.0".

Damit meine ich, dass die Neurowissenschaften bzw. die Hirnforschung wertvolle Beiträge zum alten philosophischen Projekt der menschlichen Selbsterkenntnis leisten - also wie und was der Mensch tatsächlich ist. Dabei geht es weniger um große Entwürfe als vielmehr um empirische Daten und Fakten. Und von diesen Beiträgen sind etliche auch für die philosophische Ethik relevant.
Woran denken Sie dabei im Besonderen?

Ich halte insbesondere die Erkenntnisse über die körperlichen Grundlagen moralischen Empfindens und Handelns für höchst bedenkenswert. Die Hirnforschung ist zum Ersten dabei, genauer herauszufinden, dass moralisches Denken und moralische Gefühle natürliche Phänomene sind, deren Vorläufer im Laufe der Evolution bei gemeinsamen Vorfahren des Menschen und anderen Primaten entstanden sind.

Zum Zweiten zeigt die Hirnforschung, dass die Menschen in den meisten Situationen - zur Enttäuschung mancher Philosophen, mich selbst eingeschlossen - nicht primär aufgrund rationaler Argumentation, sondern meistens aufgrund ihrer Gefühle entscheiden.

Und drittens konnten Hirnforscher zeigen, wie sehr sich diese moralischen Gefühle in einer Person im Laufe des Lebens ändern bzw. auch von Person zu Person verschieden sind. Dasselbe gilt auch für die Fähigkeit zur Einsicht, zur Impulskontrolle oder zur Übernahme anderer Perspektiven.
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Das Interview von Birgit Dalheimer stammt aus dem aktuellen Heft des Wissenschaftsmagazins "heureka!", der Wissenschaftsbeilage des "Falter". Eine Langversion des Interviews gibt es auf:
->   www.heurekablog.at
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Und das alles hat eine Grundlage im Gehirn?

Ja, das zeigt sich zum Beispiel an Unterschieden im sogenannten präfrontalen Kortex, also in einem vorderen Teil der Großhirnrinde. Manche Leute sind aufgrund dieser Gegebenheiten moralisch extrem sensibel, andere wiederum sind aufgrund rein physischer Bedingtheiten in ihrem Gehirn fast unfähig, sich in die Gefühle oder den Schmerz anderer Menschen hineinzudenken.

Manche Schläfenlappenepileptiker dagegen zeichnen sich durch Hyperreligiosität und eine tiefe Hinwendung zu ethischen oder auch spirituellen Fragen aus. Und es gibt Menschen, die ihre Moralität völlig verloren haben - weil dieser Teil ihres Gehirns durch einen Unfall oder andere Gründe geschädigt wurde.
Was hat das für Auswirkungen auf die Beurteilung unserer Handlungen?

Grundsätzlich sollten wir festhalten, dass die Neurowissenschaften nichts dazu zu sagen haben, was eine Handlung im ethischen Sinn gut oder schlecht macht. Die Hirnforschung ist - im Gegensatz zur normativen Ethik - rein deskriptiv. Entsprechend wäre es ein klassischer naturalistischer Fehlschluss, aus dem "Sein" ein "Sollen" zu folgern.

Eine Verbindung von "Sein" und "Sollen" gibt es allenthalben indirekt über das "Sollen-Können-Problem": Es macht keinen Sinn, von Menschen moralisch etwas zu fordern, was sie einfach nicht können - globales Mitgefühl oder echte "Fernstenliebe" zum Beispiel. Insofern spielen neurowissenschaftliche Erkenntnisse schon auch für normative Diskussionen eine Rolle.
Können die Erkenntnisse der Hirnforschung sonst irgendwelche Hinweise darauf geben, wie wir handeln sollen?

Nein, die Hirnforschung sagt uns absolut nichts darüber, was eine gute Handlung ist. Vielmehr stellt sich die philosophische Frage, ob es so etwas wie moralisches Wissen in einem strengen Sinne überhaupt gibt. Sind Werte überhaupt Teil der objektiven Welt? Sind ethische Aussagen wie "Du sollst nicht töten" überhaupt wahr oder falsch? Das sind die eigentlichen Probleme.
Wie soll man denn mit dieser Ungewissheit umgehen?

Das weiß ich auch nicht. Nicht zu handeln ist auch keine Option. Wenn das tatsächlich so ist, dann müssen wir eine Ethik ohne Erkenntnisanspruch aushandeln, und dann sollten wir uns möglichst schnell darauf einigen, was wir denn als wertvolle Handlungsweisen oder zum Beispiel auch als wertvolle Bewusstseinszustände ansehen wollen.

Was bedeutet das für die Gesetzgebung?

Da wird es schwierig und zugleich brisant. Denn die große Frage ist natürlich, wie viel von unserem moralischen Vermögen - ähnlich wie unsere Körpergröße - physisch vorgegeben ist und wie viel in unsere eigene Verantwortung fällt.

Also was ich selbst bewusst an meinen eigenen moralischen Eigenschaften, an meiner Einfühlungsfähigkeit, an meiner Sensibilität für ethische Fragen überhaupt ändern kann. Habe ich die Pflicht zur moralischen Selbstverbesserung oder nicht? Entsprechend ist ein breites Spektrum an Konsequenzen für die Gesetzgebung und die Rechtssprechung denkbar.
Ist es denn wirklich nötig, dass sich etwas ändert?

Ja. Denn man kann nicht einfach so tun, als wäre unser Wissen über Moral und ihre körperlichen Bedingungen dasselbe wie vor 50 Jahren. Wir wissen heute einfach mehr über physiologische Grundlagen kriminellen Verhaltens - und wir werden in Zukunft noch mehr wissen.

Es ist eben so, dass Psychopathen, Menschen mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen oder notorische Lügner mit schlechter psychiatrischer Prognose auch bestimmte Ähnlichkeiten in bestimmten Hirnstrukturen haben. Das Problem ist meines Erachtens, wie man vom existierenden Rechtssystem einen gleitenden Übergang schafft in ein System, das mehr und mehr empirisch informiert ist und dem neuen Wissen Rechnung trägt.

Können Sie skizzieren, in welche Richtung das gehen könnte?

Ich habe auch keine fertigen Lösungen. Wir werden sicher weiter Begriffe wie Zurechenbarkeit, Schuld, Verantwortung und Ähnliches verwenden. Die Bedeutung dieser Begriffe wird sich aber schrittweise verändern.

Und wir werden in Zukunft wohl nicht mehr sagen, dass jemand in jedem Fall anders hätte handeln können. Aber bis dahin, dass wir nicht mehr bestraft werden, sondern "repariert", ist es sicher noch ein sehr weiter Weg.

[4.11.08]
Thomas Metzinger spricht am 7.11. in Wien beim Symposion "Sensory Perception - Mind and Matter" über "Body-Perception, Out-of-Body, and the true Nature of the Conscious Self".
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01.01.2010