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Rückkehr zur Tradition mit Hilfe der Ethnologie  
  Die Globalisierung verstärkte in den letzten Jahren nicht nur Tendenzen einer kulturellen Vereinheitlichung, sondern auch gegenläufige Entwicklungen: Vor allem für indigene Völker wurde die Suche nach ihren Wurzeln zu einem bestimmenden Thema. Ethnologische Aufzeichnungen spielen eine zwiespältige Rolle, wenn es darum geht, sich ein Bild von der eigenen Vergangenheit zu machen, schreibt der Ethnologe Karl-Heinz Kohl in einem Gastbeitrag.  
Die Ethnologie und der Neotraditionalismus
von Karl-Heinz Kohl

Seit der Etablierung der Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin sahen die Vertreter des Faches es als ihre wichtigste Aufgabe an, die traditionellen Lebensformen der von ihren untersuchten Gesellschaften für die Nachwelt so genau wie möglich zu dokumentieren, da sie von ihrem unmittelbaren Aussterben überzeugt waren.

Die Befürchtung selbst ist indes weit älter: Bereits 1724 bemerkte der französische Jesuitenpater Joseph François Lafitau, wie viel die Irokesen von ihren alten Gebräuchen und Sitten durch den "der Umgang mit den Europäern" verloren hätten. Die "autochthonen" Kulturen sind den Einflüssen der westlichen Zivilisation jedoch nicht gänzlich erlegen.

Viele von ihnen haben eine erstaunliche Widerstandskraft bewiesen. Sie passen sich heute erfolgreich auch an die Herausforderungen der Globalisierung an und versuchen, ihre alten Traditionen wieder in Kraft zu setzen.
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Vortrag in Wien
Karl-Heinz Kohl hält am Montag, 17.11. 2008, 18 Uhr c.t., den Vortrag "Die Ethnologie und der Neotraditionalismus".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
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Ethnologie zur Identitätsfindung
In den gegenwärtigen neotraditionalistischen Bewegungen spielen die historischen Aufzeichnungen von Ethnologen als Mittel der kulturellen Identitätsfindung eine wichtige Rolle.

Bei der Rekonstruktion ihrer Traditionen greifen sie insbesondere auf die sorgfältigen ethnographischen Dokumentationen zurück, die von Ethnologen seit der Entwicklung der Methoden der stationären Feldforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstellt worden sind.
Tatsächlich traditionelle Lebensformen?
Die klassischen ethnologischen Abhandlungen der Zeit sind im ethnographischen Präsens geschrieben. Sie erwecken den Anschein, dass die dargestellten sozialen, politischen und rechtlichen Verhältnisse sich über Jahrhunderte nicht verändert hätten.

Doch erhebt sich die Frage, wie "traditionell" die von europäischen Wissenschaftlern damals beobachteten Lebensformen tatsächlich waren.
Problem schriftloser Kulturen
Entgegen einer in Europa früher weit verbreiteten Überzeugung waren auch indigene Gesellschaften schon immer historischen Änderungen überlegen, haben neue Institutionen und Gebräuche hervorgebracht und Innovationen von benachbarten Ethnien übernommen.

Schriftlosen Kulturen stellt sich beim Umgang mit ihrer eigenen Geschichte aber insofern ein Problem, als sie für das Speichern historischer Ereignisse nahezu ausschließlich auf das Gedächtnis ihrer Mitglieder angewiesen sind.
Gegenwart bestimmt Vergangenheit
Die Ökonomie des Erinnerns erfordert, dass nur das Wichtigste aufbewahrt und Unwichtiges dem Vergessen überlassen wird. Neuere ethnologische Untersuchungen über die Überlieferungsmodi schriftloser Kulturen haben gezeigt, dass die "Tradition" dabei fortwährend und nahezu unmerklich an die Gegenwart angepasst wird. Als schon immer gegeben angesehen, bestimmt sie diese nur scheinbar.

Faktisch ist vielmehr das Umgekehrte der Fall. Es sind die Bedürfnisse der Gegenwart, die bestimmen, welche Züge in die Überlieferung als Medium der Handlungsorientierung eingehen.
Gefahr der Verschriftlichung
Zieht man also in Betracht, dass Traditionen ständig im Fluss bleiben müssen, um ihre gesellschaftlichen Funktionen zu erfüllen, dann gibt es für sie eigentlich keine größere Gefahr, als durch ihre Verschriftlichung ein und für alle Mal fixiert zu werden.

Das aber ist in vielen Fällen durch die Reisenden, Missionare und Wissenschaftler geschehen, die den historischen Zustand, in dem sie die entsprechenden Gesellschaften angetroffen haben, als deren scheinbar unveränderliche "Traditionen" festgeschrieben haben.
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Bilder einer kulturellen Realität
Das Bemühen um die Rettung der vermeintlich authentischen Überlieferungen führte zu deren Verdinglichung. Historische Momentaufnahmen wurden zu den Bildern einer perennierenden kulturellen Realität. Zugleich eigneten sich die entsprechenden Gesellschaften die Außeneinflüssen aber in der bewährten "traditionellen" Art an, übernahmen, was ihnen brauchbar erschien, und veränderten sich in der festen Überzeugung, sich selbst gleich zu bleiben.
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Rolle ethnologischer Aufzeichnungen
Als Reaktion auf den Globalisierungsprozess ist es in den letzten Jahrzehnten in vielen indigenen Gesellschaften zu einer Rückwendung auf das eigene kulturelle Erbe gekommen. Das Recht auf dessen Bewahrung ist in der Deklaration der UN vom 13. September 2007 ausdrücklich festgehalten worden.

Bei der Revitalisierung untergangener Traditionen sind die entsprechenden ethnischen Gruppen aber wesentlich auf die Aufzeichnungen angewiesen, die über die Sitten und Gebräuche ihrer Vorfahren durch Ethnologen angefertigt worden sind und heute in westlichen Archiven lagern.
Aneignung des Kulturerbes
Es findet gegenwärtig ein Prozess der Wiederaneignung des eigenen Kulturerbes statt, für den freilich wiederum charakteristisch ist, was für den Umgang mit Neuem in diesen Kulturen schon immer der Fall war:

Dem vorhandenen Korpus verschriftlichter Überlieferungen werden in durchaus selektiver Weise die Elemente entnommen, die sich als Marker der eigenen kulturellen Identität eignen, die politische Forderungen legitimieren, einem positiven Selbstbild der eigenen Vergangenheit entsprechen und es auf diese Weise erlauben, die "Tradition" an die Erfordernisse der Gegenwart anzupassen.

[14.11.08]
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Zum Autor
Karl-Heinz Kohl ist Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main, Direktor des Frobenius-Instituts und ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 2001/2002 lehrte er als Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research in New York. 2007 wurde er zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde gewählt.
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01.01.2010