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Meerjungfrauen erschüttern die Geschlechterwelt  
  Halb Frau, halb Fisch: Meerjungfrauen sind ambivalente Wesen. Dadurch eignen sie sich besonders dazu, unsere Gewissheiten über Geschlechter zu erschüttern, meint der Literaturwissenschaftler Andreas Kraß. Er illustriert dies anhand des mittelalterlichen Romans "Melusine", dessen Schlüsselszene er psychoanalytisch interpretiert. Meerjungfrauen sind aber nicht nur eine gute Projektionsfläche für unsere Vorstellungen von Weiblichkeit.  
Sie sind auch ein Sinnbild für Literatur an sich, wie Krauß am Beispiel der Sirenengesänge aus Homers Odyssee erläutert. Er hält am Montag am IFK in Wien einen Vortrag zum Thema.
science.ORF.at: Die vermutlich populärste Meerjungfrau ist Arielle, die als Zeichentrickfilm vor fast 20 Jahren in die Kinos kam und auf einer Geschichte von Hans Christian Andersen beruht. Haben Sie das als Kind gekannt?

Andreas Kraß: Ja, ich lag im Krankenhaus und las Andersens Märchenbuch, u.a. auch die Geschichte von der kleinen Meerjungfrau. Die Lektüre hat mich sehr fasziniert. Und jetzt, nach 40 Jahren, war es Zeit zu ergründen, was mich damals so berührt hatte.
Was fasziniert den erwachsenen Wissenschaftler an Meerjungfrauen?

Hier am IFK gibt es den Forschungsschwerpunkt "Kulturen der Evidenz". Die Frage, die sich in dem Zusammenhang mit Meerjungfrauen aufdrängt, lautet: Wie ist es möglich, dass eine Meerjungfrau, die einen Fischleib hat und nicht über den vollständigen Körper einer Frau verfügt, dennoch zum Phantasma von Weiblichkeit werden kann?

Dabei geht es um die Frage der Evidenz von Geschlecht: Gibt es eine Evidenz von Männlichkeit und Weiblichkeit, die sich unmittelbar herstellt? Mir scheint, dass man am Bild der Meerjungfrau schön ablesen kann, dass diese Evidenz ein Trugbild ist.
Ein Trugbild, weil das Evidente gerade das Verborgene ist?

Ich glaube, das Evidente ist eine Projektion. Der Körper, auf dem man die Natur des Männlichen oder Weiblichen zu sehen glaubt, ist eine Projektionsfläche für die eigenen Vorstellungen von Geschlecht. Die Bilder von der Meerjungfrau fangen das gut ein. Sie können nicht erfüllen, was sie sollen, nämlich ein realistisches Bild von Weiblichkeit abzuliefern.

Die Meerjungfrau bricht also diese Projektionen?

Ja, indem sie die Projektionen als solche sichtbar macht.

Weil sie nur obenrum richtig Frau ist?

Oben ist das, was sich der begehrende Blick verspricht, der untere Teil ist das, was die Fantasien zum Vorschein bringt. Der Unterleib der Melusine z.B. ist kein Fischschwanz, sondern ein Schlangenschwanz. Meine zentrale These: Die Melusine ist mit ihrem Schwanz eine phallische Frau.
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Vortrag in Wien
Andreas Kraß hält am 1. Dezember, 18.00 c.t., den Vortrag "Die Wahrheit über das Geschlecht. Enthüllungen in der 'Melusine' Thürings von Ringoltingen".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Bevor Sie uns das erklären: Können Sie kurz erzählen, worum es in dem Stück geht?

In dem Roman wird die unglückliche Beziehung zwischen einer Meerfee und einem Menschen geschildert. Die Fee trifft auf einen Mann, der sich in höchster Not befindet, und verspricht ihm Reichtum, Herrschaft und Glück, wenn er sie heiratet - unter der Bedingung, dass er sie niemals an einem Samstag im Bad besucht. Er hält sich vorerst an die Regel, sie gebiert ihm zehn Söhne, schenkt ihm Burgen, Schlösser und Klöster, alles kommt von ihr. Eines Tages wird er misstrauisch und bricht das Tabu. Er entdeckt ihr Geheimnis, sieht ihren Schlangenschwanz. Der Tabubruch führt dazu, dass Melusine ihn verlässt.
Und daraufhin verarmt er natürlich?

Nein, überraschenderweise nicht. Das ist erst der erste Teil der Geschichte, im zweiten Teil gibt es einen neuen Protagonisten, einen seiner Söhne. Und der kommt, ohne es zu wollen, hinter das Familiengeheimnis seiner Mutter. Sie ist nämlich die Tochter einer Fee, die ihrerseits einen Mann heiratete, und wiederholt so ihr Schicksal.

Gibt's ein Happy End?

Sagen wir ein ordentliches Ende. Die meisten Söhne heiraten Königstöchter und werden mächtige Fürsten, so wie es den Vorstellungen der damaligen Zeit entsprach. Ein Happy End zwischen Mann und Fee gibt es aber nicht.
Melusine im Bade
 
Bild: Andreas Krass

Illumination zu Thüring von Ringoltingen, Melusine, 15. Jh., Germanisches Nationalmuseum
Die Schlüssellochszene deuten Sie psychoanalytisch, was läuft da ab?

Das sieht man ganz gut an einer Illustration der Szene, die aus einer Handschrift des 15. Jahrhunderts stammt. Der Ehemann hat mit dem Schwert ein Loch durch die Tür gebohrt und blickt wie ein Voyeur hinein. Er sieht den nackten Oberkörper seiner Frau und den Schlangenschwanz, der aus dem Badezuber hängt.

Ich glaube, dass sich Schwert des Mannes und Schwanz der Frau entsprechen. Das lässt sich mit einem Zitat von Jacques Lacan auf den Punkt bringen: Der Frau ist der Phallus, den der Mann hat. D.h. die Frau verkörpert die Attribute der Männlichkeit. Der Mann muss die Frau besitzen, um sich seiner Männlichkeit gewiss werden zu können.

Mir scheint, dass das hier bildhaft vorweggenommen worden ist: Der Mann sieht auf die Frau, sieht ihren Phallus, sieht, dass sie der Ursprung all dessen ist, was ihn ausmacht: Sie hat ihm zehn Söhne geschenkt, die Burgen und Schlösser, sie hat ihn reich gemacht. Seine ganze Macht beruht auf der Frau.
Das Bild sieht ja aus, wie wenn es von Lacan selbst gemalt worden wäre.

Ja, ich vermute, dass Lacan eine Wiedergeburt ist von Thüring von Ringoltingen, dem Autor des mittelalterlichen Romans, und der hat französische Wurzeln, ein offenkundiger Zusammenhang (lacht).

Dazu passt das in Ihrem Vortragstext verwendete französische Sprichwort "Finir en queue de poisson" - wörtlich übersetzt "mit einem Fischschwanz enden" -, was soviel heißt wie eine Hoffnung zu enttäuschen.

Das ist eine Anspielung auf den antiken Poeten Horaz, der einmal geschrieben hat, dass ein missratenes Kunstwerk einer Gestalt gleiche, die oben aussieht wie eine schöne Frau und unten einen hässlichen Fischschwanz aufweist. Das interessiert mich natürlich sehr: Meerjungfrauen nicht nur als Sinnbild von gefährlicher und gefährdeter Weiblichkeit, sondern auch als Sinnbild von Dichtung und Dichtkunst.
Odysseus und die Sirenen
 
Bild: Andreas Krass

Vasenbild von 475-450 v. Chr.
Was macht Meerjungfrauen zu einem solch guten Sinnbild für Literatur?

Nehmen Sie z.B. Homers Sirenengeschichte aus der Odyssee. Ohne selbst Altphilologe zu sein, lese ich sie als eine Art Allegorie. Die Sirenen sind für mich nicht nur Sängerinnen, sondern auch Dichterinnen, die die Menschen verführen, indem sie sie von sich selbst ablenken und der Fiktion überantworten.

Da stellt sich die Frage: Wie geht man damit um, wie kann man den Lügen der Dichtung entgehen? Da gibt es eigentlich nur zwei Antworten: Entweder man verstopft sich die Ohren und hört nicht zu, das machen die Gefährten des Odysseus, oder man lässt sich an einen Mast festbinden wie Odysseus, d.h. man ändert seinen Standpunkt nicht.
Das ist aber nicht das, was uns Homer nahelegt?

Ich glaube, dass Homer seine Geschichte mit Ironie erzählt. In der Antike und im Mittelalter war es ja so, dass fiktionale Dichtung im Gegensatz von Lüge und Wahrheit definiert wurde. Es gibt einen langen Diskurs, demzufolge die Dichtung schädlich für den Menschen ist, weil sie lügt und ihn von der Wahrheit abbringt. Mir kommt es fast so vor, als wenn die Sirenengeschichte auf sehr kunstvolle Weise diesen Gedanken thematisiert. Dahin weist z.B., dass der Inhalt der Sirenengesänge der Kampf um Troja ist. Und genau darüber hat Homer ja geschrieben. Ich glaube also, dass er seine Rolle als Dichter ironisch reflektiert.

Er steht also nicht auf einem der beiden Standpunkte: Ohren zu oder auf dem Standpunkt beharren?

Nein, Homer ist ja selber eine Sirene und hofft auf Zuhörer.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 28.11.08
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Andreas Kraß ist Professor für Ältere Deutsche Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main und derzeit Senior Fellow am IFK in Wien.
->   Andreas Kraß, Universität Frankfurt
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->   IFK
 
 
 
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01.01.2010