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Ethnologe Claude Lévi-Strauss ist 100  
  "Ich bin Anthropologe geworden, weil ich der Philosophie entkommen wollte", sagte Claude Lévi-Strauss einst. Und dennoch ist der weltberühmte Völkerkundler, der heute 100 Jahre alt wird, für viele eher ein Philosoph.  
Seit mehr als einem halben Jahrhundert nimmt der zurückhaltende Wissenschaftler Stellung zu aktuellen Kulturdiskussionen. Er gab den Begriffen "Rasse", "Kultur" und "Fortschritt" eine neue Bedeutung und erkannte früh, dass die kulturelle Vielfalt großen Einfluss auf den sozialen Zusammenhang von Gesellschaften und den Frieden hat - eine These, die im Zeitalter der Globalisierung immer mehr an Bedeutung gewinnt.

So würdigt Frankreichs Presse den Wissenschaftler als den "philosophischsten Ethnologen" seiner Zeit.
"Traurige Tropen"
Bild: APA/str
Claude Lévi-Strauss, undatierte Aufnahme
Auch die Kultur- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNESCO) feiert Lévi-Strauss als "einen der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts". Ein Bild, das bereits in den 1950er Jahren mit der Veröffentlichung seines Bestsellers "Traurige Tropen" entstanden ist.

Ein wissenschaftlicher Reisebericht über Brasilien, der als "großes Buch der Weisheit" gepriesen wurde. In seinen Studien warnte er schon früh vor dem Aussterben der durch den sogenannten zivilisatorischen Fortschritt bedrohten "primitiven" Kulturen.

Zu einer Zeit, in der der Begriff "Fortschritt" noch weitgehend unreflektiert positiv besetzt war, bezog Lévi-Strauss als Kulturpessimist Stellung und wurde zum Buhmann der Fortschrittsgläubigen.
"Ich hasse Reisen"
Doch "Traurige Tropen" war nicht nur eine Kritik an der Gesellschaft. Mit diesem Buch nahm er auch Abstand zu seinem eigenen Beruf. Denn letztendlich war ein Ethnologe ein Abgesandter dieser zerstörerischen Zivilisation, die durch ihre Expansion vor keiner Gegend der Erde Halt macht. In dieser Rolle wollte sich Lévi-Strauss nicht sehen.

"Ich hasse Reisen", sagte er und widmete sich verstärkt dem Schreiben, was ihm viele seiner Kollegen zum Vorwurf machten. Sie stellten seine Analysen von Material aus zweiter Hand in Frage und bezweifelten seine daraus gewonnenen Aussagen über Gesellschaften, ihre Mythen und die ihnen zu Grunde liegenden Denkstrukturen.
Begründer des Strukturalismus
Stattdessen wertete Lévi-Strauss tonnenweise angehäuftes Forschungsmaterial aus und erfand eine neue Methode der anthropologischen Forschung: den Strukturalismus.

Die entscheidenden Werke dieses Strukturalismus, der zu verstehen sucht, wie der menschliche Geist funktioniert und wie die mentalen und kognitiven Strukturen aussehen, sind in den 1960er Jahren entstanden wie "Das wilde Denken", "Vom Ursprung der Tischsitten" und "Das Rohe und das Gekochte".
Urvölker komplexer als bis dahin gedacht
Durch seine rigorose, klassifizierende Logik zeigte der Forscher, dass die sozialen und familiären Systeme der Urvölker oftmals komplexer und subtiler waren als unsere - und irritierte damit in alten Denkmustern verharrende konservative Ethnologen.

Denn die "Primitiven" galten vor Lévi-Strauss als Völker mit archaischer Denkweise, ohne Schrift und Maschinen. Für ihn gibt es keine Rasse, die der anderen intellektuell über- oder unterlegen ist. Jede ethnische Gruppe der Menschheit habe ihren spezifischen Teil zum gemeinsamen Erbe beigetragen.
Schlecht in Philosophie
Zur Ethnologie kam der 1908 in Brüssel geborene Sohn eines Malers nur deshalb, weil er schlecht in Philosophie gewesen sei, ein Fach, das er an der Pariser Sorbonne zusammen mit Soziologie und Rechtswissenschaften studiert hatte.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später feiert Frankreich den Forscher, der zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen erhalten hat - so 2003 den deutschen Meister-Eckhart-Preis - als Philosophen, Humanisten und bedeutenden Intellektuellen.
Universalistischer Anspruch
Der Frankfurter Ethnologe Karl-Heinz-Kohl schrieb am Donnerstag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über Lévi-Strauss: "Kein Vertreter vor ihm hat sich einen ähnlich breiten Fundus an ethnographischem Wissen angeeignet, keiner nach ihm hat einen ähnlich universalistischen Anspruch entwickelt. Die verschiedenen neoevolutionistischen Ansätze wie Kulturökologie und Kulturmaterialismus, die auf den Strukturalismus folgten, können ihm das Wasser kaum reichen."

Sabine Glaubitz, dpa, 28.11.08
->   FAZ zum 100. Geburstag von Lévi-Strauss
Mehr dazu in oe1.ORF.at:
->   Traurige Tropen
->   Die Wahrheit liegt auf dem Schreibtisch
 
 
 
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01.01.2010