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Blinder Mann kann Hindernisse "sehen"  
  Es ist zwar kein Weihnachtswunder, aber ein bisher einzigartiger Fall in der Medizin, von dem ein internationales Forscherteam berichtet: Zwei Schlaganfälle hatten das Sehzentrum eines Patienten zerstört. Nun gelang es ihm, in einem Versuch einen Hindernisparcours zu bewältigen ohne gegen ein einziges der Hindernisse zu stoßen. Der Patient habe sich unbewusst orientiert, berichten die Mediziner.  
Bisher hatte man nur bei Affen beobachtet, dass sie sich mit nicht mehr funktionierendem Sehzentrum orientieren können. Der nun veröffentlichte Versuch ist der erste, wo man das auch bei einem Menschen sehen konnte.

Manche der Beobachter hätten spontan applaudiert, wie die Forscher um die niederländische Psychologin Beatrice de Gelder schreiben. Als Beweis ihrer Arbeit haben sie ein Video des Hindernislaufs vorgelegt.
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Die Studie "Intact navigation skills after bilateral loss of striate cortex" ist am 23. Dezember in "Current Biology" (Bd. 18, R1128) erschienen.
->   Abstract der Studie
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Verschüttete Pfade
Die Form der Blindheit, unter der der Patient leidet, wird Rindenblindheit genannt. Die Sehrinde verarbeitet im Gehirn die von den Augen wahrgenommenen Signale zu optischen Eindrücken. Als visueller Cortex erstreckt sie sich über beide Gehirnhälften. Ist dieses Zentrum beschädigt, etwa durch einen Schlaganfall, verlieren die Betroffenen trotz funktionierender Augen die Fähigkeit zu sehen.

Informationen der Augen werden laut den Autoren der Studie in mehreren Regionen des Gehirns verarbeitet. Manche dieser alternativen Pfade bleiben uns im Alltag jedoch verborgen, da wir uns an den optischen Wahrnehmungen und den gesehenen Sinneseindrücken orientieren.

"Diese evolutionär alten visuellen Pfade tragen mehr dazu bei, uns in der Welt zurechtfinden, als wir glauben", sagt de Gelder.
Erkennen von Gesichtsausdrücken
In ihrem aktuellen Versuch ließen die Forscher den Patienten, den sie TN nennen, ohne Stock und fremde Hilfe einen langen Gang entlang gehen, in dem mehrere Schachteln und Sessel aufgestellt waren. Der Patient stieß zur Überraschung der Wissenschaftler gegen kein einziges der Hindernisse.

Schon in früheren Studien konnte der Patient, den die Forscher TN nennen, Gesichtsausdrücke von Menschen erkennen. Obwohl er die Gesichter nicht bewusst sehen konnte, reagierte sein Gehirn auf die Gesichtsausdrücke mit Aktivitäten in den Gehirnregionen für Furcht, Ärger oder Freude.

TN ist ein seltener Fall. Es gibt nur wenige Menschen mit vollständiger Rindenblindheit. TNs andere Gehirnregionen sind darüberhinaus nicht beeinträchtigt, sieht man von leichten Wortfindungsstörungen ab.
Alternative Wege im Gehirn
Laut de Gelder liefere der aktuelle Versuch eine wichtige Erkenntnis für Patienten mit Hirnschäden. Informationen, die zur Orientierung nötig sind, würden nicht im Sehzentrum des Gehirns allein verarbeitet.

Welche neurologischen Vorgänge den blinden Patienten die Hindernisse "sehen" lassen, ist laut den Forschern nicht ganz geklärt. Sicher sei aber, dass die Informationen zuerst ganz ins Innere des Hirns gelangten, zum so genannten Thalamus, der als eine Art Relaisstation diene. Der Thalamus leite die Information dann wahrscheinlich in Hirnregionen weiter, die bei der visuellen Steuerung von Bewegungen und der Erkennung von Reizen eine Rolle spielten..

Es gebe vieles, das wir tun können, ohne es zu wissen, meint de Gelder. Solange wir alle fünf Sinne benutzen können, nehmen wir diese Fähigkeiten offenbar nicht bewusst war.

science.ORF.at, 23.12.08
->   Beatrice de Gelder
Mehr zu dem Thema auf science.ORF.at:
->   Forscher entdeckten bei Blindem "sechsten Sinn" (13.12.04)
 
 
 
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01.01.2010