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Rassismus: Schein und Wirklichkeit
Toleranz oft nur ein Lippenbekenntnis
 
  Am 20. Jänner dieses Jahres wird mit Barack Obama das erste Mal ein Afroamerikaner das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten antreten. Gehört Rassismus damit endgültig der Vergangenheit an? Laut einer aktuellen Studie ist das Gegenteil der Fall. Sie zeigt, dass Menschen weitaus weniger ungehalten auf rassistische Handlungen reagieren, als sie selbst vermuten würden.  
Laut den US-amerikanischen und kanadischen Psychologinnen gibt es immer noch einen tiefen Widerspruch zwischen bewussten gesellschaftlichen Normen und gelebten Haltungen.
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Die Studie "Mispredicting Affective and Behavioral Responses to Racism" von Kerry Kawakami et al. ist in der aktuellen Ausgabe von "Science" (Bd. 323, 9. Jänner 2009, DOI: 10.1126/science.1164951) erschienen.
->   Abstract der Studie
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Eigene Toleranz wird überschätzt
Das heutige Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen ist gewissermaßen paradox: Einerseits werden Vorurteile und Übergriffe gesellschaftlich verurteilt. Keiner will als Rassist gesehen werden. Die gelebte Praxis sieht aber oft ganz anders aus.

Laut den Forscherinnen rund um Kerry Kawakami vom Department of Psychology der York University in Kanada erleben mehr als 60 Prozent aller Schwarzen alltägliche Diskriminierungen. Das besage auch eine aktuelle US-Studie.

Für ihre Untersuchung gingen die Psychologen davon aus, dass Menschen sich und ihre Reaktionen häufig falsch einschätzen, sich sozusagen in ihrer Toleranz überschätzen. Um dieses Missverhältnis zu untersuchen, führten sie ein Experiment mit 120 Freiwilligen durch. Es gab keine farbigen Teilnehmer.
Wie Beschimpfungen erlebt werden
Für den ersten Teil der Untersuchung teilten sie die Probanden in zwei Gruppen, eine "vorhersehende" und eine "erlebende". Den Personen der Erlebnisgruppe wurden beim Betreten des Versuchsraums zwei männlichen Personen vorgestellt - eine schwarz, die andere weiß - im Glauben, es handle sich um andere Studienteilnehmer. Kurz nachdem der Studienleiter den Raum verlassen hatte, verließ auch der Schwarze den Raum - vorgeblich auf der Suche nach seinem Mobiltelefon. Dabei streifte er das Knie des weißen Kollegen.

In der Folge gab es drei unterschiedliche Versuchsanordnungen. In der Kontrollbedingung blieb der Vorfall unkommentiert. Die zweite Anordnung enthielt eine moderate Beschimpfung. "Ich hasse es, wenn Schwarze das machen", äußerte dabei der Weiße. In der dritten Anordnung kam es zu einer massive Beleidigung, frei übersetzt: "Patscherter Neger!"

Nur Minuten später kehrten der Studienleiter und der Schwarze zurück. Alle mussten einen ersten Erhebungsbogen ausfüllen, der auch Fragen zum Vorfall enthielt. Danach musste der Proband mündlich einen der beiden Kollegen als Mitspieler für eine weitere Aufgabe wählen.
Erleben führt zu geringeren Reaktionen
In der "vorhersehenden" Gruppe wurde der gesamte Ablauf der Ereignisse einfach erzählt. Danach mussten die Teilnehmer einschätzen, wie es ihnen in dieser Situation ergangen wäre und wen sie als Partner gewählt hätten.

Bei der Auswertung der Ergebnisse zeigte sich laut den Forscherinnen, dass jene Teilnehmer der Zuhörer-Gruppe, die die extrem oder leicht rassistischen Übergriffe erzählt bekommen hatten, weitaus ungehaltener reagierten. Die Probanden der Erlebnisgruppe zeigten generell kaum Reaktionen, egal in welcher Anordnung.
Auswahl der Mitspieler eindeutig beeinflusst
Auf die Auswahl eines Mitspielers hatten die unterschiedlichen Anordnungen in beiden Gruppen erheblichen Einfluss. Deutlich weniger der "vorhersehenden" Gruppe wählten im Fall der rassistischen Beschimpfungen den Weißen als Spielpartner, etwa 17 Prozent.

In der Erlebnisgruppe hingegen - und das ist das wirklich Erstaunliche - waren es im Fall der rassistischen Bemerkungen 63 Prozent, obwohl sie ihre Wahl mündlich kundtun mussten. Das deutet darauf hin, dass ihre fehlende Reaktion auf die Beschimpfungen keineswegs nur auf mangelnde Zivilcourage zurückzuführen, sondern tatsächlich ein Ausdruck unbewusster Einstellungen war.

In der Kontrollbedingung, bei welcher die Übergriffe unkommentiert blieben, unterschieden sich beide Gruppen kaum.
"Echtheit" hat keinen Einfluss
In einem weiteren Versuchsteil bekam die "vorhersehende" Gruppe die Ereignisse nicht nur erzählt, sondern auch als Video gezeigt. Auch diese Veränderung kam laut den Forschern zu ganz ähnlichen Resultaten.

Demnach habe es offenbar keinen Einfluss, wie "echt" derartige Vorfälle erlebt werden. Im Gegenteil: Die "echte" Situation ruft weit weniger Reaktionen hervor als die vorgestellte oder abgebildete.
Rassismus wird konserviert
Die Forscherinnen rund um Kawamaki schließen daraus, dass unsere tatsächlichen Emotionen oder Reaktionen kaum von unseren bewussten Einstellungen abhängen, sondern von unterbewussten negativen Haltungen. Diese Neigung führe zu einer Duldung rassistischer Übergriffe, da der emotionale Aufwand für eine Zurechtweisung unverhältnismäßig groß wäre.

Auf diese Weise wird Rassismus laut den Wissenschaftlerinnen sozusagen konserviert. Dabei könnte sich nur dann etwas ändern, wenn derartige Beschimpfungen auch öffentlich geahndet würden.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 9.1.09
->   Kerry Kawakami
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Die Vorurteile hinter der Vorurteilsfreiheit (10.10.08)
->   Fremdenfeindlichkeit: Kultur dient als Deckmantel (26.2.08)
->   Keine wissenschaftliche Grundlage für Rassismus (17.1.05)
 
 
 
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01.01.2010