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Auf der Suche nach der großen Mutation  
  US-Genetiker haben bisher unbekannte Variationen in unserem Erbgut entdeckt. Sie könnten den Unterschied zwischen Menschen und Menschenaffen erklären. Aber das ist letztlich nur eine Vermutung, geben sie zu.  
Kränken und karikieren

A Venerable Orang-Utang
Sigmund Freud hat Darwins Abstammungslehre bekanntlich als "große Kränkung der Menschheit" bezeichnet , betrachtet man die Karikaturen, die nach der Veröffentlichung der "Origin of Species" veröffentlicht wurden, kommt man zu dem Schluss: Ganz falsch kann die Freud'sche These nicht gewesen sein.

Ob der Darwinismus nun tatsächlich narzisstische Konflikte im kollektiven Selbst verursacht hat, ist vermutlich eine theoretische Geschmacksfrage. Nicht bezweifelbar ist jedenfalls, dass Darwin unser Selbstbild massiv verändert hat. Und die Karikaturen sind Zeuge und Nachweis dieser Wendung.

"A Venerable Orang-Utang" heißt die wohl berühmteste (Bild rechts). Sie erschien 1871 im Magazin "The Hornet" und vereinigt zwei klassische Motive. Zum einen Darwin mit Moses-Bart (den er sich erst in späten Jahren wachsen ließ), zum anderen das beliebte Affenmotiv - Ausdruck der Groteske, die man angesichts der Behauptung empfand, der Mensch stamme vom Affen ab. Wobei klar ist, dass das nur eine verkürzte Redeweise ist.

Die korrekte Langversion dieser Formel müsste nämlich lauten: Die großen Menschenaffen - Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans - sind unsere nächsten Verwandten. Wir stammen alle von einem gemeinsamen Vorfahren ab, den, könnten wir ihn heute sehen, wir wohl als Affe und nicht als modernen Mensch ansprechen würden.
99 Prozent Übereinstimmung
Sieht man von wenigen konservativen Kirchenvertretern ab, sorgt die "Affenverwandtschaft" heute bei niemandem mehr für Aufregung. Die einst so verbreiteten Karikaturen wurden durch nüchterne Stammbaumzeichnungen ersetzt, darin sind Details vermerkt, die uns von unseren nächsten Verwandten trennen.

In genetischer Hinsicht ist das nicht sehr viel. Rund 99 Prozent unseres Erbguts stimmt mit jenem des Schimpansen überein, viele Biologen finden das rätselhaft: Wie können derart geringe genetische Differenzen zu so großen Unterschieden auf körperlicher, sozialer und kultureller Ebene führen?

Die Frage ist freilich schlecht gestellt. Denn Körperliches mag noch stark durch genetische Faktoren bedingt sein, beim Sozialen und Kulturellen nimmt die unmittelbar determinierende Kraft der Gene ab, es treten andere Faktoren hinzu - und die sind definitionsgemäß nicht am Genom ablesbar.
Verdoppelte Gensequenzen
Bild: Nature
Man kann bzw. muss dieses grundsätzliche Argument auch auf biologischer Seite verfeinern, wie eine aktuelle Studie von Forschern um Evan Eichler zeigt. Der Genforscher vom Howard Hughes Medical Institute, Seattle, hat mit seinen Kollegen einen Erbgutvergleich von vier Primaten (Makake, Orang-Utan, Schimpanse und Mensch) vorgenommen und bisher unbekannte Variationen entdeckt.

"Wir haben im Erbgut von Menschen und Menschenaffen eine Menge verdoppelter Gensequenzen gefunden. Darin liegen Gene, die sich sehr schnell verändert haben", schreiben die Forscher in einer Aussendung. Die Verdoppelung der Gensequenzen ist im Prinzip eine besondere Form der Mutation, die es in der zum Menschen führenden Stammbaumlinie - wie anderswo auch - immer schon gegeben hat.

Der nun im Fachblatt "Nature" (Bd. 457, S. 877) veröffentlichten Studie zufolge dürfte sie sich jedoch vor etwa acht bis zwölf Millionen Jahren deutlich beschleunigt haben. Das war zu jener Zeit, als noch der gemeinsame Vorfahre von Gorilla, Schimpanse und Mensch gelebt hat (siehe Bild rechts).

"Es ist unklar, warum bei unseren Vorfahren eine so massive Duplikationsrate eingesetzt hat. Wir wissen noch nicht einmal, welche Funktionen die betroffenen Gene haben", sagt Jeffrey Kidd, ein Co-Autor der Studie. Und sein Kollege Eichler fügt hinzu: "Es war für uns aufregend zu lernen, dass das Ansteigen der Duplikationsrate just in jener Zeit aufgetreten ist, in der andere Arten der Mutation zurückgefahren wurden."
Der Sinn im genetischen Text
So bleibt zunächst nur die Lehre, dass der handelsübliche Genomvergleich vermutlich nicht besonders gut geeignet ist, um Fragen der Art "Warum sind Affen und Menschen so unterschiedlich?" zu beantworten. Denn die Sequenzdaten des Erbguts scheinen gleichzeitig zu viel und zu wenig Informationen zu enthalten.

Zu viel, weil zu den rund drei Milliarden Basenpaaren des Humangenoms auch jede Menge DNA-Abschnitte gehören, die im Kontext dieser Frage schlichtweg irrelevant sind - etwa in Bereichen, die hoch konservierte "Haushaltsgene" oder DNA-Junk beinhalten.

Andererseits sind die reinen Sequenzdaten auch arm an Information, wenn man nach dem Sinn des Ganzen sucht. Man denke etwa an linguistische Buchstabenstatistiken: Natürlich könnte man Unterschiede zwischen französischer, englischer und deutscher Literatur finden, indem man Vokale und Konsonanten abzählt. Aber es würde niemand auf die Idee kommen, dieser Betrachtungsebene einen besonderen Stellwert einzuräumen.

Genetische Sequenzdaten sind zwar ohne Zweifel wertvoller als reine Buchstabenstatistiken, dennoch kennt auch der genetische Text so etwas wie Sinn und Bedeutung. Das ist die Funktion - und die ist in vielen Fällen eben noch nicht bekannt.
"Kann, muss aber nicht sein"
"Wir wissen noch nicht, warum Schimpansen und Menschen so unterschiedlich sind", resümieren die Forscher. "Die nun entdeckten Duplikationen könnten der Grund für diesen Unterschied sein. Aber es muss nicht so sein."

Für Eichler und sein Team steht jedenfalls fest: Das bis jetzt festgestellte Prozent an genetischen Differenzen reicht nicht aus, um die Grenze zwischen Tier und Mensch hinreichend zu erklären.

Darauf könnte man auch mit einer Gegenfrage antworten: Wie groß müssten genetische Unterschiede eigentlich sein, damit sie akzeptabel erscheinen? Vielleicht liegt in der Suche nach dem großen genetischen Graben ja ein letzter Rest der Kränkung, die uns Darwin vor 150 Jahren zugefügt hat.

Robert Czepel, science.ORF.at, 12.2.09
->   Evan Eichler
->   Genom - Wikipedia
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01.01.2010