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"Auge und Wort": Kunst des 20. Jahrhunderts
Gesammelte Schriften von Werner Spies
 
  Werner Spies ist einer der renommiertesten Kunsthistoriker und Ausstellungskuratoren der Gegenwart, der mit Max Ernst, Pablo Picasso und Samuel Beckett eng befreundet war. Sein Leben widmete er der Vermittlung der avantgardistischen Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts.  
Nunmehr liegen seine "Gesammelten Schriften" in zehn Bänden vor; "Auge und Wort" - so lautet der Titel, den Peter Handke vorgeschlagen hat.
Autorenkenner und Kurator
Bild: epa
Werner Spies 2007
Der 1937 in Rottweil geborene Werner Spies kann auf eine außergewöhnliche Biografie zurückblicken. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Romanistik lebte er ab 1960 in Paris, wo er Schriftsteller/innen wie Nathalie Sarraute, Marguerite Duras, Alain Robbe Grillet, Claude Simon, Michel Butor, Henri Michaux, Michel Leiris oder Samuel Beckett kennen lernte. Er hatte die Möglichkeit, bei einigen dieser Schriftsteller Hörspiele für den Süddeutschen Rundfunk in Auftrag zu geben.

Später profilierte sich Spies als international anerkannter Kurator bedeutender Ausstellungen von Künstlern des 20. Jahrhunderts wie Max Ernst oder Pablo Picasso, die in Paris, London, New York oder auch in Wien stattfanden. ("Picasso-Maler gegen die Zeit", 2007 und "Max Ernst: Une Semaine de Bonte", 2008, beide in der Albertina).

Spies war auch Lehrstuhlinhaber für die Kunst des 20. Jahrhunderts an der Kunstakademie Düsseldorf und Direktor des Musee national d'art moderne im Centre Pompidou in Paris.
Freundschaft mit Max Ernst
Eine besondere Freundschaft verband Spies mit dem Maler und Bildhauer Max Ernst, dessen Werkkatalog er zusammenstellte. Wie Spies erzählt, war der Künstler zu Beginn gar nicht sehr erfreut, dass sein vorliegendes Gesamtwerk nunmehr mumifiziert werden sollte.

Das Faszinierende an Max Ernst war die Auflehnung gegen die bourgeoise Ordnung, "der Angriff auf die Grundlagen der Zivilisation, auf die Sprache, Syntax, Logik, Literatur" (Max Ernst). Dies geschah nach einer radikalen, dadaistischen Rebellion gegen den traditionellen Kunstbegriff durch eine subtile Destruktion der sogenannten Realität. Die Gewissheit, dass Reales existiert, löste sich in seinen Bildern auf, die an nicht deutbare Traumbilder erinnern.

Spies betont, dass Max Ernst im Gegensatz zu Sigmund Freud den Traum nicht rationalisieren, sondern ihn vielmehr in seiner Anarchie belassen wollte. Belebt wurden die Bilder von Phantasiegestalten; vom Vogelmenschen "Loplop", vom "Löwen von Belfort" oder vom "Elefanten von Celebes".
Der Künstler als Alchemist
 
Bild: EPA

"Portrait d'Andre Breton" von Max Ernst

Trotz seiner Vorlieben für das Surreale, die Phantasie oder für die Traumwelten war Max Ernst kein Ekstatiker wie etwa William Blake. Dafür sei er zu intelligent gewesen, meint Spies.

Diese Intelligenz zeigte sich auch in der künstlerischen Arbeitsweise von Max Ernst, die Spies so beschreibt: "Es ist ein Oeuvre, das sich grundsätzlich auf bestehende Informationen beruft, diese heranzieht und durch Veränderung einem alchemistischen Prozess überführt."
Paddelboot und Staubsauger treffen sich im Wald
Dieser Prozess orientierte sich an einem Ausspruch des französischen Schriftstellers Lautreamont, der Schönheit als "Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch" definierte.

In der Schrift "Beyond painting" variierte Max Ernst Lautreamont. Bei ihm wurde die Realität zur "Konfektionswirklichkeit", die in der Form eines Paddelbootes auftritt; eine andere Wirklichkeit nimmt die Gestalt eines Staubsaugers an.

Paddelboot und Staubsauger begegnen einander nicht auf einem Seziertisch, sondern im Wald, der für Max Ernst stets das Symbol des Anarchischen, Wilden, Undurchdringlichen darstellte, in dem der Mensch mit seiner Rationalität verloren geht.
"Kontinent Picasso"
Für Spies ist Picasso "die Wirbelsäule der Kunst des 20. Jahrhunderts". In zahlreichen Gesprächen erkundete er den "Kontinent Picasso" und entdeckte dabei "ein anthropologisches Modell, das es vorher noch nicht gegeben hat", wie er im Gespräch hervorhebt.

Das Werk Picassos stellt eine permanente Revolution dar, die sich gegen die zeitgenössische Kunst und gegen sich selbst richtet. Dies wird in der Rekapitulation der einzelnen Schaffensphasen Picassos deutlich: Auf die "Blaue Periode" folgt die "Rosa Periode", darauf der Kubismus. Danach wurde Picasso die Avantgarde zu langweilig, er wandte sich dem Klassizismus zu, der bald vom Surrealismus ersetzt wurde.

Dies alles geschah in einem atemberaubenden Tempo und gipfelte in der beispiellosen Explosion seines Alterswerks, das vielfach auf Unverständnis stieß.
Malen gegen die Zeit
 
Bild: epa

"Le Baiser" von Picasso

Das Spätwerk Picassos ist von Rastlosigkeit und Expressivität bestimmt. Er wusste, dass nur mehr wenig Zeit blieb, um seine Bilder zu malen. Themen waren eine enthemmte Sexualität, das überquellende Fleisch des Menschen, deformierte Köpfe oder bizarre Körper.

Die 2007 von Spies zusammengestellte Ausstellung "Malen gegen die Zeit" in der Albertina legte davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. Gleichzeitig stehen diesen wilden expressiven Bildern akribische Zeichnungen und Radierungen gegenüber. Deshalb spricht Spies von einem Doppelwerk, das den alten Picasso zum eigentlich avantgardistischen Maler dieser Jahre machte.
Kunstkommentare
In den übrigen Bänden werden die Vorgeschichte und Geschichte der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts thematisiert. Eine besondere Rolle spielt dabei "das Laster namens Surrealismus, der zügellose, leidenschaftliche Gebrauch der Droge Bild" (Louis Aragon).

Für Spies stellt der Surrealismus - also das Eintauchen in eine nicht reale Welt des Traums, der Phantasie und des Rausches - "einen umfassenden wie präzisen Kommentar zu den Leidenschaften und Ängsten dieser Zeit" dar.

In einem weiten Bogen spannen sich die Aufsätze und Essays von Andre Breton und der "surrealistischen Freundschaftsmaschine" über Jackson Pollocks Action Painting, Victor Vasarelys Op Art, Andy Warhols Pop Art bis zur zeitgenössischen Kunst von Joseph Beuys, Christo, Georg Baselitz und Anselm Kiefer.
Literatur und Betrieb
Im letzten Band kommentiert Spies hauptsächlich die Werke von Autoren des Nouveau Roman wie Natalie Sarraute, Michel Butor oder Robert Pinget. Es sind dies jene Autoren, denen er Aufträge für Hörspiele verschaffte.

Eine besondere Freundschaft verband ihn mit Samuel Beckett, der ebenfalls auf Anregung von Spies einige Hörspiele und Fernsehspiele wie "Words and Music", "Cascando", "He, Joe" oder "Was wo" verfasste. Bei den jeweiligen Produktionen ergab sich die Gelegenheit zu zahlreichen Gesprächen, die einen profunden Einblick in Becketts künstlerischen Schaffensprozess vermitteln.

Er erlebte dabei einen liebenswürdigen, selbstironischen Beckett. Sein Werk ist jedoch geprägt von "willenlosen, an den Fäden von Schuld und Prädestination taumelnden Menschen, die mit dem Unterleib schon in der Erde, im Grab stecken", so Spies.

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 20.3.09
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Literaturhinweis
Werner Spies: Auge und Wort. Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur in 10 Bänden. Herausgegeben von Thomas W. Gaehtgens, unter Mitarbeit von Maria Platte, Berlin University Press. Die Bände sind auch einzeln erhältlich.
->   Spies bei Berlin University Press
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->   Werner Spies Net
 
 
 
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01.01.2010