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Höhenangst: Eine Folge verzerrter Wahrnehmung  
  Der Zustand beginnt oft wenige Meter über dem Boden: Schwindel, Atemnot und Herzrasen überfallen den Betroffenen, sicher fühlt er sich erst, wenn er wieder unten ist. Die Höhenangst oder Akrophobie zählt zu den häufigen Angststörungen.  
Laut einer aktuellen US-Studie ist diese Reaktion möglicherweise weniger pathologisch als vermutet, sondern bloß eine Folge der falschen Einschätzung von Distanzen.
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Die Studie "Individual differences in distance perception" von Russell E. Jackson ist in den "Proceedings of the Royal Society B" (25. Februar 2009, DOI: 10.1098/rspb.2009.0004) erschienen.
->   Abstract der Studie (sobald online)
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Große individuelle Unterschiede
Die Einschätzung von Entfernungen ist einer der wichtigsten kognitiven Prozesse, wesentlich für die Interaktion mit der Umgebung, beim Mensch und bei vielen Tieren. Psychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass es dabei große individuelle Unterschiede gibt.

Diese Differenzen wurden bis jetzt auf Geschlecht, Alter oder Zielort zurückgeführt. Jedenfalls könnte dieser Umstand laut dem US-amerikanischen Psychologen Russell E. Jackson vom Department of Psychology der California State University at San Marcos eine Erklärung für die weit verbreitete psychische Störung der Höhenangst liefern.
Nachvollziehbare Reaktion
Die meisten Wissenschaftler, Ärzte oder Psychologen gehen davon aus, dass es sich bei der Akrophobie wie bei anderen Phobien um eine unvernünftige und überzogene Reaktion auf einen äußeren Reiz handelt.

Laut Russell ist es aber durchaus auch möglich, dass die Störung schon vor der Angst - nämlich in der Wahrnehmung - auftritt. Mit anderen Worten: Der Betroffene überschätzt generell Höhen, seine ängstliche Reaktion wird dadurch um einiges "natürlicher" oder zumindest verständlicher.
Evolutionäre Erklärung
Der Evolutionspsychologe bezieht sich dabei auf die "Evolved navigation theory" (ENT) - ein Forschungsansatz, der besagt, das der Aufwand für das Navigieren im Lauf der Evolution nicht nur die Fortbewegung selbst, sondern auch die Wahrnehmung geformt hat. Diese sei letzlich das funktionelle Ergebnis der natürlichen Selektion.

Laut dieser Theorie würden Beobachter, Entfernungen dann überschätzen, wenn sie einen größeren Navigationsaufwand bedeuten. Eine mögliche Erklärung: Diese verzerrte Wahrnehmung würde einem quasi automatisch, den richtigen, weil - in der Wahrnehmung -kürzeren Weg weisen. Die Entscheidungsfindung würde dadurch beschleunigt und vereinfacht.
Deutliche Überschätzung bei Höhenangst
Im Rahmen der aktuellen Studie mit 43 Freiwilligen hat Russell nun diese theoretischen Vermutungen überprüft. Dabei mussten die Teilnehmer nach einer Voruntersuchung bezüglich ihrer Höhenangst die Höhe eines Abhangs abschätzen, einmal von oben und einmal von unten. Die Einschätzung erfolgte, indem sie mit Hilfe eines Assistenten die von ihnen wahrgenommene Distanz in der Ebene angeben mussten. Dafür hatten sie ausreichend Zeit und konnten mehrere Korrekturen durchführen.

Die Untersuchung bestätigte die Annahmen der Theorie: Die "höhenängstlichsten" Personen überschätzten die Distanzen am meisten, egal ob sie unten oder oben standen. Waren sie allerdings oben, verschätzten sie sich noch deutlicher. Laut Russell kam allen Probanden der Abhang etwas höher vor als er war. Personen mit Höhenangst sahen ihn allerdings als fast doppelt so hoch.
Wahrnehmungsstörung kommt vor der Angst
Dass die ängstlichen Probanden auch von unten die meisten Fehleinschätzungen machen, ist für den Forscher ein Beleg dafür, dass die Wahrnehmungsverzerrung zuerst stattfindet und nicht eine Folge der Angst ist. Die zugrundeliegende Ursache sei der hohe Aufwand, der die Überwindung eines derartigen Abhangs darstellt.

Die Erkenntnisse könnten laut dem Psychologen auch praktische Anwendungen bringen: etwa im der Behandlung von Menschen mit Höhenangst, indem sie das Einschätzen von Distanzen trainieren, aber auch als ein Maß für die Angststörung selbst.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 25.1.09
->   Department of Psychology (California State University)
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01.01.2010