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"Der Mensch ist uninteressant geworden"
Kulturwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer im Interview
 
  Lebens- und Neurowissenschaften sind zwar die dominanten Disziplinen der Gegenwart. In ihre Deutung mischen sich aber auch die Kulturwissenschaften immer stärker ein. Sie sind dabei buchstäblich "auf den Hund" und andere tierische Begleiter gekommen, wie der Titel des letzten Buchs der Philosophin Donna Haraway schon verrät.  
Diese Rückkehr des Lebens in die Kulturwissenschaften konstatiert auch die Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer.

Während der Mensch als Gegenstand der Wissenschaft im Verschwinden begriffen ist, wird sein Verhältnis zu Tieren und Maschinen zunehmend wichtiger, meint die Rektorin der Kunsthochschule für Medien Köln und derzeitige Senior Fellow am IFK in Wien.
science.ORF.at: Die Biologie hat das immer schon getan, nun widmen sich auch die Kulturwissenschaften zunehmend dem Leben. Ist das eine Eroberung oder Wiedereroberung von feindlichem Terrain - Natur statt Kultur?

Marie-Luise Angerer: Das ist schwierig, mit Ja oder Nein zu beantworten. Was es sicher gibt, ist eine wissenschaftspolitische Notwendigkeit. Die Geistes- und Kulturwissenschaften sind durch die Übermacht der Neurobiologie enorm unter Druck geraten und stehen heute vor der Tatsache, sich entweder mit deren Themen zu beschäftigen oder auf der Strecke zu bleiben. Es gibt also eine Art Beschäftigungszwang.

Das Leben als Thema kommt aber auch aus den gesellschaftlichen Entwicklungen: Es ist zunehmend gefährdet, unsicher, relativ etc. Wenn sich Kulturwissenschaftler dem Leben widmen, erheben sie einen Interpretationsanspruch, der besagt, die Naturwissenschaftler erforschen zwar das Leben, aber wir interpretieren es - wobei das zunehmend auch die ersteren machen.
Wie ist es zur Wiederentdeckung des Lebens in den Kulturwissenschaften gekommen?

Die Auseinandersetzung mit Tieren als das Andere des Menschen etwa oder jene mit Maschinen als der Natur Entgegengesetztes sind alte Fragen, die sich Philosophen oder Kulturwissenschaftler immer schon gestellt haben. Was sich verändert hat, ist die Notwendigkeit, sich mit ihnen zu beschäftigen.

Früher hat man sich eher gefragt, wie sich der Mensch in die Reihe zwischen Tier und Maschine einreiht. Heute ist mein Eindruck, dass es dem Menschen zu viel geworden ist, etwas anderes zu sein. Es besteht eine enorme Sehnsucht danach, gleich zu sein wie die Tiere und Maschinen, als ein Organismus unter anderen zu existieren.
Eine Kritik am Anthropozentrismus?

Die gab es auch schon immer, nur heute wird sie mit bisher unbekannter Schärfe artikuliert. Michel Foucault hat gemeint, der Mensch sei eine junge Erfindung, die bald wieder verschwinden wird. Heute ist es so, dass nicht zuletzt viele weibliche Denkerinnen den Anthropozentrismus kritisieren, wenn sie sagen: Der Mensch hat 200 Jahre geglaubt, etwas anderes und besseres zu sein, er hatte den Anspruch, die Welt sinnvoll zu regieren.

Das ist für Autorinnen wie Luciana Parisi oder Manuela Rossini eine Fehlentwicklung, weil sie den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Für sie sollten wir heute die Dinge vielmehr auch aus Sicht der Tiere, der Natur, der Berge, Seen und des Universums betrachten.
Welche Autoren und Autorinnen sind da maßgeblich?

Bruno Latour meint in seinem Buch "Parlament der Dinge", dass es kein Subjekt und kein Objekt gibt, sondern sich beide gegenseitig konstituieren. Ganz maßgeblich ist Donna Haraway. Sie vertritt die Ansicht, dass alles, was die Philosophen im 20. Jahrhundert mit Tieren versucht haben - ob Derrida, Deleuze/Guattari oder Heidegger -, uns im Alltag nicht hilft. Sie schreibt in ihrem letzten Buch "When Species meet", wir müssten uns endlich der Tatsache stellen, dass wir mit Tieren leben, konkret mit Hunden, den ältesten Lebensgenossen des Menschen.

Wenn ich mit meinen Hunden lebe, arbeite und trainiere, dann hätten wir ein Verhältnis, das sei zwar anders als mit Menschen, aber dennoch ein Verhältnis. Das ist nicht das gleiche, wie die alte philosophische Frage, was sich der Hund dabei denkt, wenn er mich ansieht. Denn die Antwort laute: möglicherweise nichts. Aber der Hund interagiert mit mir und dabei werden wir beide geformt. Haraway meint das zum Teil sehr ironisch, aber auch sehr ernst.
Bei Foucault war es wohl eher eine antihumanistische Geste, die von Ihnen angesprochenen neuen Autorinnen oder auch der deutsche Schriftsteller Dietmar Dath sehen im Verschwinden des Menschen aber doch noch aufklärerische Potenziale: Wie geht das zusammen?

Das sind zwei verschiedene Dinge. Foucault hat gesagt, der Mensch als Objekt der Ökonomie und anderer Wissenschaften werde nach rund 200 Jahren wieder verschwinden. Genau das ist auch eingetreten: Themen wie "der Mensch und seine Sprache" oder "der Mensch und seine Denken" klingen heute wenig reizvoll.

Der Mensch ist als Untersuchungsgegenstand uninteressant geworden. Heute stellt sich vielmehr die Frage: Wer lebt mit diesen Menschen? Warum stehen wir dort, wo wir stehen, und stellen fest, dass wir Klimakatastrophe, Wirtschaftskrise etc. nicht unter Kontrolle bringen?
Die Hunde werden aber weder Klimakatastrophe noch Wirtschaftskrise überwinden.

Das ist genau der Punkt, man setzt nicht auf Hunde, oder sagt wie Dietmar Dath, die Tiere übernehmen die Herrschaft. Bei Dath sind die Tiere auch nicht überlegen, sie machen die gleichen Fehler wie die Menschen. Ich weiß auch nicht, ob er das als Fabel meint, wonach immer, wenn jemand an die Macht kommt, die gleichen Fehler macht und die gleichen Hierarchien entstehen.
Noch bis vor kurzem wäre es undenkbar gewesen, in einer kritischen Tradition mit Tieren zu argumentieren und dennoch die Aufklärung am Köcheln zu halten. Woher kommt das, ist das ein Rückgriff in die Romantik?

Das glaube ich nicht. Aber denken Sie nochmal an das Cyborg-Manifest von Donna Haraway von Anfang der 1980er Jahre. Ihre Cyborg war eine Denkfigur für die Zukunft, wonach es einmal einen hybriden Menschen geben wird mit einem hohen Ausmaß an Elektronik, ein Datenträger im doppelten Sinne, biologisch und technologisch. Damals stand das noch im Bann der Technik, die Haraway gar nicht mehr interessiert hat. Heute sind wir durch die Neurobiologie viel weiter.

Andere Lebewesen wie Pflanzen und Tiere sind sehr ähnlich aufgebaut wie wir, haben einen ähnlichen Datensatz, wiewohl auch Differenzen. Wir erkennen, dass wir andere Interaktionen, mit allem was uns umgibt, haben werden müssen: ob das intelligente Häuser, Hunde oder Pflanzen sind. Manuela Rossini schreibt über eine antispeziesistische Trendwende, derzufolge man nicht die Unterschiede der Arten betonen soll, sondern sich als eine Art unter vielen begreift. Die Menschen seien sehr unterschiedlich, und es sei genauso falsch von den Menschen zu sprechen, wie von den Tieren.

Darin liegt für mich auch das gefährliche des Diskurses: Wenn ich "Unterschiede von Menschen" lese, muss ich an historische Vorbilder denken, an Unterscheidungen von besseren und schlechteren Menschen, von welchen, die man ausrotten darf, und anderen.
Wodurch unterscheidet sich dass das neue Denken vom Leben von jenem, das auch schon einmal stark über das Leben nachgedacht hat, namentlich im Faschismus?

In erster Linie durch den Forschungsstand. Die Neurobiologie und Genforschung gab es damals in der Form nicht.

Die Frage nach der Rückkehr des Lebens kann man vielleicht mit dem Soziologen Dirk Baecker beantworten. In seinem 2007 erschienenen Buch "Studien zur nächsten Gesellschaft" geht es noch ganz altmodisch um Kybernetik, Künstliche Intelligenz und Nanotechnologie. Baecker sieht den Unterschied darin, dass man früher ähnliche Fragen zum Leben gestellt hat, aber dass sich der Mensch nie miteinbezogen hat in die Entwicklungen. Und das sei für die nächste Gesellschaft radikal anders. Das Leben der Menschen in der Moderne sei nie in Frage gestellt gewesen, selbst nicht durch Kriege und Konzentrationslager. Heute hingegen sei das gefährdete Leben das einzige, für das die Menschen mit Sicherheit kämpfen.

Baecker meint, wir seien längst von Hybriden, Maschinen und Haushaltsrobotern umgeben. Und sie winken uns zu aus einer Zukunft in eine Welt, in der es noch Menschen gegeben hat.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 3.3.09
->   Marie-Luise Angerer, KHM Köln
->   IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften
 
 
 
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01.01.2010