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Polit-Agitation und neue Lehre: 40 Jahre Uni Vincennes
Produkt der 68er-Bewegung feiert Geburtstag
 
  Die 68er-Bewegung hat viele Institutionen erschüttert, nicht zuletzt die konservativen Universitäten. In Paris, dem europäischen Zentrum der Bewegung, führte dies zur Bildung einer neuen Hochschule. In Vincennes, am östlichen Stadtrand von Paris, wurde 1969 eine Experimental-Uni eröffnet mit neuen Fächern, neuen Lehrmethoden und neuen Professoren.  
Hier gab es kaum noch frontale Vorlesungen, der Umgang von Studierenden und Professoren war demokratischer, an den einzelnen Fakultäten herrschte Selbstverwaltung.

In Vincennes versammelten sich nahezu alle französischen Intellektuellen der Zeit: vom Philosophen Michel Foucault über den Literaturwissenschaftler Roland Barthes bis zum Soziologen Pierre Bourdieu. Die Uni, die 1979 an einen anderen Pariser Vorort übersiedelt ist, feiert in diesen Monaten ihren 40. Geburtstag.
"Schöpfung des wehenden Freiheitsgeistes"
Bild: epa
Studentenproteste im Pariser Mai 68
Pascal Binczak, der Rektor der Vincennes-Nachfolgeuni in St. Denis, nennt die Universität anlässlich des Jubiläums "eine Schöpfung des Freiheitsgeistes, der im Mai 68 geweht hat. Ein hervorragendes Laboratorium der kritischen Analyse der gegenwärtigen Welt. Die Wiege eines Denkens, deren Ausstrahlung international war."

Die französische Zeitung "Nouvel Observateur" schrieb vor kurzem von "elf goldenen Jahren dafür, was die Amerikaner French Theory nennen. Innerhalb weniger Stunden konnte man in Vincennes hören, wie Jean-Francois Lyotard über das Begehren philosophiert, oder wie Jacques Ranciere dialektischen Marxismus unterrichtet.

Auf der Seite der Literaturwissenschaft gab es Roland Barthes, der Linguist Noam Chomsky, frisch aus den USA in seinen Blue Jeans gelandet, faszinierte das Auditorium mit der Klarheit seiner Ausführungen."
Lacan-Althusser-Aristokratie
Dazu kam noch die Psychoanalyse, die nur in Vincennes außerhalb der Medizin studiert werden konnte, geführt von einem Schüler Jacques Lacans.

Weitere "Promis" der Uni: Michel Foucault übernimmt das Schlüsseldepartment der Philosophie, dazu gesellen sich Alain Badoiu, Michel Serres, Jacques Ranciere und Etienne Balibar. Gilles Deleuze kommt später dazu, auch die Lacanianer Serge Leclaire und Judith Miller, die Tochter von Lacan.

"Die Creme de la creme der besten Schulen des Landes, die Lacan-Althusser-Aristokratie", kommentiert der bis heute unterrichtende Politologe Daniel Lindenberg.
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Radio-Hinweis
Dem 40. Geburtstag von Vincennes widmet sich auch ein Beitrag im Ö1 Dimensionen Magazin: Freitag, 6.3.09, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.
->   Mehr dazu in oe1.ORF.at
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An den Stadtrand von Paris verpflanzt
Wie ist es zu diesem goldenen Zeitalter des französischen Denkens gekommen? In erster Linie durch einen Schachzug der gaullistischen Regierung nach dem Mai 68. Da die Unruhen die Pariser Innenstadt arg in Mitleidenschaft gezogen hatten, ließ sich der Unterrichtsminister Edgar Faure mit Beratung durch den Historiker Francois Furet etwas einfallen: Die neue Uni wurde an den östlichen Rand der Hauptstadt verpflanzt - der Bau erfolgte in Rekordzeit von August bis Dezember 1968, eröffnet wurde im folgenden Jänner.

Mit der Ausstattung wollte man die Studierenden offenbar beeindrucken. Geboten wurde "eine luxuriöse Experimentaluni mit Teppichböden in allen Stockwerken, letztem Schrei in der Videotechnik und avantgardistischem Mobiliar", wie es der "Nouvel Observateur" vor kurzem beschrieben hat.
Hier konnten sich die Studierenden austoben
Der Politikwissenschaftler Michel Cullin, heute an der Diplomatischen Akademie Wien, war vor 40 Jahren als junger Forscher bei den Anfängen von Vincennes dabei.

Im Gespräch mit science.ORF.at erinnert er sich: "Man hatte in Paris keine positive Erfahrung gemacht mit einer anderen Uni an der Peripherie: Nanterre, wo 68 die Unruhen begonnen hatten. Jetzt dachte man sich: Mit etwas ganz Neuem in waldiger Gegend, da können sich die Leute austoben wie sie wollen, und wir in der Mitte von Paris werden nicht davon tangiert."
Linksradikale plus neue Lehrformen
Bild: epa
Szene von den Protesten in Paris
Von Beginn an war Vincennes eine Hochburg der Studentenbewegung. Hier tummelten sich Linksradikale aller Art, Maoisten, Trotzkisten und andere. Lehrveranstaltungen wurden oft durch Diskussionen und spontane Streikaufrufe unterbrochen. Vincennes war aber nicht nur ein Schauplatz politischer Agitation. Sie war auch eine ganz neue Art von Hochschule mit neuen Fächern und neuen Formen des Unterrichts.

Es gab weniger Frontalunterricht, wesentlicher Bestandteil war die Diskussion in den Seminaren. Die Vorlesungen fanden oft am Abend oder Wochenende statt, um auch Berufstätigen die Chance zur Teilnahme zu geben.

Dadurch unterschieden sich auch die Studenten und Studentinnen von jenen der Sorbonne oder anderer Hochschulen. Und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer politischen Einstellung. Die Professoren wussten, dass sie es nicht mit klassischen Studenten zu tun hatten. Man musste keine Matura haben, um in Vincennes zu studieren, auch Ausländer waren zugelassen.
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Filmwissenschaft, Psychoanalyse, Künstliche Intelligenz
Wirklich bahnbrechend waren die neuen Studienrichtungen, die den revoltierenden Studenten angeboten wurden. Filmwissenschaft, Psychoanalyse, Theater und Kunst, ja sogar Künstliche Intelligenz konnte studiert werden. Auf Interdisziplinarität wurde großer Wert gelegt. Technik und Einrichtung der Universität waren äußerst modern.
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Auch Professoren genossen neue Strukturen
Die Professoren waren entweder bereits die bedeutendsten Intellektuellen des Landes oder wurden es später. Roland Barthes lehrte Literaturwissenschaft, Julia Kristeva gab sich auf der Linguistik die Ehre. Für sie und andere war Vincennes die lange ersehnte Möglichkeit, aus der Starre der traditionellen französischen Hochschullandschaft auszubrechen.

"Das waren zum Teil Professoren, die an den klassischen Universitäten begonnen haben zu forschen und schnell ihre Grenzen entdeckt haben, etwa keine Interdisziplinarität, keine Möglichkeit zu experimentieren, oder die Möglichkeit, angewandte Forschung zu betreiben. Oft hat es sich um Leute gehandelt, die aus den Eliteschulen stammten und hohes Niveau hatten, die aber nichts mit der Sorbonne anzufangen wussten", erinnert sich Michel Cullin.
Hochburg des Strukturalismus
Inhaltlich war Vincennes ein großes Paradox. Als Kind des Freiheitsgeists von 68 wird die Uni zur Hochburg des Strukturalismus, einer Denkströmung, die "weit davon entfernt ist, nach dem Akt der Freiheit zu schauen, die im Gegenteil nach den Invarianten Ausschau hält, den Konstanten mit langer Dauer, in einer deterministischen, ja sogar wissenschaftsgläubigen Logik", so Francois Dosse, Autor einer Biographie von Deleuze/Guattari, im "Nouvel Observateur".
Umzug nach St. Denis, Bedeutung ungebrochen
Bild: Jacques Marie/Archives
Arbeiter haben sich 1968
mit den Studierenden solidarisiert
Über zehn Jahre lang blieb die Universität das Zentrum des französischen Denkens. 1979 kam dann das Ende für Vincennes, nachdem die Uni zunehmend verwahrloste und kleinere und größere Skandale aufgedeckt worden waren.

Unter einer sozialistischen Regierung wurde die Uni nach St. Denis übersiedelt, einem weiteren Ort an der Pariser Peripherie. In St. Denis wird seither versucht, an die Tradition von Vincennes anzuknüpfen. Die Bedeutung der Universität Paris 8, wie sie heute offiziell heißt, ist jedenfalls ungebrochen, meint Michel Cullin:

"Zehn Jahre später wurde der Geist von Vincennes auch an der Sorbonne spürbar, die Funktion der Uni am Rande der Stadt und am Rande der Hochschullandschaft ist unbestreitbar. Wenn Frankreich ein intellektuelles Niveau behalten konnte seit 68, dann verdankt es das Vincennes."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 6.3.09
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Michel Cullin ist Leiter der Felix-Kreissler-Arbeitsstelle für österreichisch-französische Beziehungen an der Diplomatischen Akademie Wien.
->   Diplomatische Akademie Wien
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->   Universität Paris 8 - Vincennes - St. Denis
->   "Nouvel Observateur" über das Jubiläum
->   Buch: Vincennes, l'aventure de la pensee francaise
->   1968 in Österreich (Demokratiezentrum)
->   Arbeitsstelle für österreichisch-französischische Beziehungen
 
 
 
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01.01.2010