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Was können Konsensuskonferenzen?  
  Energie- und Wirtschaftskrise, dazu steigende Arbeitslosigkeit, Politikverdrossenheit und Unzufriedenheit mit der Europäischen Union: Was können in dieser Situation Verfahren zur Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen an Prozessen der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung bewirken?  
Anlässlich von zwei Konsensuskonferenzen, die im März in Wien zu den Themen "Energie" und "Zukunft Europas" stattfinden, geht dieser Frage Josef Hochgerner in einem Gastbeitrag nach. Er ist wissenschaftlicher Leiter des ZSI (Zentrum für Soziale Innovation), das Mitveranstalter beider Konferenzen ist.
Innovationen in der politischen Meinungsbildung
Von Josef Hochgerner

Das politische System der Gegenwart beruht in erster Linie auf dem Prinzip der repräsentativen Demokratie, wonach Bürger und Bürgerinnen Abgeordnete in die regionalen, nationalen und europäischen Parlamente entsenden. Die Abgeordneten sollen stellvertretend und möglichst repräsentativ Willen und Wünsche des "Wahlvolks" in der Gesetzgebung der jeweiligen politischen Einheit (Bundesland, Staat, Europäische Union) zum Ausdruck bringen.

In und neben den gewählten Körperschaften und den darauf gestützten Exekutivorganen spielen politische Parteien und Medien eine hervorragende für die politische Meinungsbildung, Entscheidungsvorbereitung und Durchsetzung von Beschlüssen.

Wie bekannt und allenthalben unübersehbar, gilt der Satz "nobody is perfect" nicht nur individuell sondern auch für juristische Personen, Staaten und insgesamt für das System der repräsentativen Demokratie. Daher existieren, von Land zu Land verschieden, aber doch sehr verbreitet ergänzende Elemente der sogenannten direkten Demokratie (Petitionen, Volksbegehren, Volksabstimmungen).
Fragen, die nach Beteiligung rufen
Jenseits der Reichweite von direkten und indirekten Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung gibt es freilich immer wieder Fragen, die zu spezifisch sind, um durch allgemeine Abstimmungen gelöst werden zu können: etwa Betriebsansiedlungen, Straßenbau, Kindergärten, Schulen oder Pflegeeinrichtungen etc.

Weiters bringen insbesondere Technik und Wissenschaft, aber auch die europäische Integration und Globalisierung Phänomene hervor, auf welche die Instrumente demokratischer Willensbildung keinen oder zu wenig Einfluss haben. Dazu gehört das demokratiepolitische Defizit, dass das Europäische Parlament (noch) nicht vollwertig gesetzgebende Körperschaft der Europäischen Union ist.

Im Vertrag von Lissabon ist zwar eine Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments (EP) vorgesehen: Aber zur vollständigen Übertragung der gesetzgebenden Macht vom Europäischen Rat (der nationalen Regierungen) an das EP ist es noch ein weiter Weg.
BürgerInnenkonferenzen als eine Möglichkeit
Die enorme Bandbreite politischer Prozesse - im Sinn der Gestaltung des sozialen Zusammenlebens - bringt es mit sich, dass bestehende Verfassungen, Gesetze und Gremien nicht hinreichend Regelungen für alle möglichen Problemstellungen bereit halten können. Wäre das der Fall, müssten wir in einem zweifellos unwillkommenen, undemokratisch-überregulierten System leben.

Zu große Lücken in der Mitsprache und unkontrollierbare Entscheidungsverfahren sind jedoch einer demokratischen Gesellschaft ebenfalls nicht zuträglich. Um angesichts wachsender Komplexität gesellschaftlicher Prozesse ("Globalisierung") einerseits die Balance zwischen Offenheit und Regulierung zu halten, und andererseits für neue Anforderungen adäquate Chancen der Beteiligung zu schaffen, sind in den letzten Jahrzehnten vielfältige "Partizipationsverfahren" entwickelt worden.

Dazu zählen Konsensus- oder BürgerInnenkonferenzen, Planungszellen, Zukunftswerkstätten u.a.m. In einer Studie des Instituts für Technikfolgenabschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) aus dem Jahr 2006 wurden neun verschiedene Partizipationsverfahren zusammenfassend analysiert und dargestellt.
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Zwei Konferenzen im März in Wien
Davon ist aktuell die Methode der BürgerInnenkonferenz von besonderem Interesse, weil zwei solche Konferenzen im März in Österreich stattfinden: nämlich die "Europäische BürgerInnenkonferenz", die nach 2007 bereits zum zweiten Mal in allen EU-Mitgliedstaaten durchgeführt wird, wobei bereits vor ihrer Durchführung online diskutiert werden kann, und die "BürgerInnenkonferenz zum Risiko:Dialog Energiegesellschaft".
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Vorbild Dänemark
Konsenskonferenzen wurden vor allem vom seit 1986 bestehenden Dänischen Rat für Technologie entwickelt und eingesetzt, um Auswirkungen von Technologien auf Menschen und Gesellschaft zu evaluieren und Empfehlungen für das Parlament zu erarbeiten. Dabei behandeln Bürgern und Bürgerinnen ein Thema von überregionaler und großer sozialer Bedeutung.

Der Zeitaufwand schwankt zwischen zwei und maximal sechs Konferenztagen. Dafür werden bis zu hundert Personen so ausgewählt, dass berufstätige und nicht berufstätige Frauen und Männer aller Bildungsschichten und Altergruppen aus Stadt und Land die Chance haben teilzunehmen.

Alleine der Zeitaufwand ist freilich eine hohe Anforderung an die TeilnehmerInnen wie auch an die organisierende(n) Institution(en). Finanzielle Abgeltung dafür kann den Bürgerinnen und Bürgern in aller Regel nicht ausreichend gewährt werden; Anerkennungsbeträge zuzüglich zu den Reise- und Aufenthaltsspesen sind jedoch üblich.
Eine Konferenz für Laien
Das überzeugendste Argument für die Teilnahme liegt in der allgemeinen Relevanz des Themas. Die eingeladenen Menschen müssen es erstens interessant finden, ihre Meinungen zum Thema mit anderen auszutauschen, und zweitens berechtigt Hoffnung haben, dass ihre im Konsens beschlossene Abschlusserklärung an zuständigen Stellen Beachtung findet.

Die BürgerInnenkonferenz ist grundsätzlich eine Laienkonferenz. Zur Bearbeitung des Themas erhalten die TeilnehmerInnen vorbereitete Sachinformationen. Während der Konferenz stehen Experten und Expertinnen als Auskunftspersonen zur Verfügung. Diese sollen aber nie von sich aus intervenieren, sondern Fragen beantworten. Im Mittelpunkt stehen die Bürger und Bürgerinnen, deren Ziel es ist, am Ende der Konferenz eine im Konsens verabschiedete Erklärung zu beschließen.

Die darin enthaltenen Vorschläge können selbstverpflichtenden Charakter haben ("wir werden in Zukunft ...") und Forderungen an Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zum Ausdruck bringen.
Resultate können in Politik eingehen
Konsenskonferenzen sind innovativ, weil ihre Wirksamkeit weit über die Feststellung von Meinungen und Wünschen hinaus gehen kann. Sie sind keine Methode der Meinungsforschung, sondern der Meinungsbildung und Konsensfindung. Ihre Resultate - zusammengefasst in der gemeinsamen Abschlusserklärung - können in weitere öffentliche, politische und institutionelle Diskussions- und Entscheidungsinstanzen eingebracht werden.

Direkt relevante Anschlussaktivitäten können z.B. parlamentarische Enqueten sein, in denen Abgeordnete von Landtagen, Nationalrat oder des Europäischen Parlaments die Ergebnisse diskutieren.

Darüber hinaus bleibt neu gewonnenes Wissen und profilierte Meinung nicht auf die TeilnehmerInnen beschränkt: Diese gewinnen nämlich durch die Konferenz nicht nur neues Wissen, sondern auch Selbstsicherheit und die Erfahrung, dass ihre Stimme zählt. Aus gelungenen BürgerInnenkonferenzen gehen ThemenführerInnen ("Opinion Leader") hervor, deren Wirkung in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld sehr hoch einzuschätzen ist.

[13.3.09]
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Radio-Hinweis
Ab 16. März widmet sich auch das Ö1 Radiokolleg dem Thema "Partizipation - Die Mobilisierung der Mitmachgesellschaft".
->   Mehr über die Sendung
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->   Zentrum für Soziale Innovation
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Franz Seifert: Über Bürgerkonferenzen
->   Bürgerkonferenzen: Wenn Laien mitsprechen dürfen
 
 
 
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01.01.2010