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In Archiven ist Vergangenheit buchstäblich präsent
Für manche ein Fall von sexuellem Fetischismus
 
  Archive üben auf manche Menschen eine besondere Anziehung aus: Auf den seltenen Fall eines Archivfetischisten, der durch alte Handschriften sexuell erregt wurde, ist der Historiker Mario Wimmer gestoßen. Er nimmt ihn als Ausgangspunkt, um die "Logik der Archive" zu analysieren.  
Archive waren nicht nur Orte von Geschichte, sondern auch Räume, in denen vergangenes Leben buchstäblich anwesend war, meint er in einem Gastbeitrag.
Das Unbewusste der Archive
Von Mario Wimmer

Der deutsche Privatgelehrte Karl Hauck hatte in den 1920er Jahren hunderte alte Handschriften aus verschiedenen Archiven gestohlen und auf dem Autographenmarkt verkauft.

Seine Entdeckung verdankte sich dem akribischen Anhang einer heute nahezu bedeutungslos gewordenen Abhandlung der Akademie der Wissenschaften in Wien. Am 22. September 1924 ersteigerte das Hausarchiv in Charlottenburg bei einer Auktion einen Brief des Kronprinzen Friedrich des Großen an den Gatten Maria Theresias. Dieser Brief war nicht unbekannt.

Als er an der entsprechenden Stelle in die Bestände des Archivs eingeordnet werden sollte, stellte der zuständige Archivar, Heinrich Otto Meisner, fest, dass er zu einer Serie von Briefen gehörte, die im Anhang der erwähnten Akademieabhandlung abgedruckt worden waren.

Dort wurde die Herkunft jener Briefe, die inzwischen auf dem Autographenmarkt gelandet waren, noch mit k.u.k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, fasc. 495 nachgewiesen. Ein Blick in die Benutzerakten versicherte, dass niemand anderer als der letzte Benutzer sie gestohlen haben musste. "Eine unrechtmäßige Entfremdung in neuester Zeit", wie Meisner festhielt, "war damit bewiesen."
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Mario Wimmer hält am Montag, den 16. März, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Das Unbewusste der Archive".
Ort: IFK, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung
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Seltsame Anekdote von sexueller Befriedigung
 
Bild: Mario Wimmer

Illustration einer zeitgenössischen Tageszeitung zu einer Gerichtsreportage.

Nach der Entdeckung durch Archivare zeigte sich, dass der Dieb auch von einer ungewöhnlichen sexuellen Leidenschaft erfasst worden war. Dr. phil. Karl Hauck gestand nach seiner Verhaftung in Berlin vor dem Untersuchungsrichter, wie er beim Anblick alter Handschriften sexuelle Befriedigung finden konnte.

Seine Geständnisse verursachten nicht nur einen Aufsehen erregenden Skandal, seine Diebstähle stellten auch einige Prinzipien der Archivwissenschaft in Frage.

Ende der zwanziger Jahre hatte Heinrich Otto Meisner über die Diebstähle von Karl Hauck in der renommierten "Archivalischen Zeitschrift" berichtet, seitdem wurde diese Episode aus der Welt der Archive aber vor allem als seltsame Anekdote ausgetauscht.
Erfahrung totaler Präsenz vergangenen "Lebens"
In meiner Arbeit nehme ich sie zum Ausgangspunkt für Überlegungen über die Logik von Archiven. Durch die erneute Erzählung der Begebenheit lässt sich beschreiben, was in der Welt der Archive als gerade noch vorstellbar und möglich galt.

So zeigt sich nicht nur die ungeheure Macht, mit der "die" Geschichte seit dem 19. Jahrhundert das Leben der Menschen kennzeichnete, sondern auch, dass Archive Orte waren, an denen Menschen mit Geschichte in Berührung kamen. Sie boten einen phantasmatischen Raum für die Erfahrung totaler Präsenz vergangenen "Lebens".
Geschichtliches Unbewusstes der Archive
Das Unbewusste der Archive hat kaum etwas mit dem "zeitlosen Unbewussten" der Psychoanalyse zu tun. Nimmt man den Umweg über die Geschichte der Archive, lässt sich ein Unbewusstes der Archive beschreiben, das durch und durch geschichtlich ist. Das Archiv als Institution bewahrte nicht nur Urkunden und Akten, in ihm wurden nicht nur bestimmte wissenschaftliche und kulturelle Praktiken tradiert, es produzierte und überlieferte auch einen spezifischen kulturellen Code "der" Geschichte schlechthin.

Erst eine radikale Historisierung dieser Umstände erlaubt zu erkennen, bis in welche Bereiche diese Vorstellungen einer Geschichte reichten und wie sie zugleich auch die Form bestimmten, unter der sie wahrgenommen wurden.
Sehnsucht nach Wiederholung von Vergangenheit
 
Bild: Mario Wimmer

Innenraum eines Archivs

Die Archive wurden zu emblematischen Orten der Geschichte. In ihnen verkörperte sich in Papierform die Sehnsucht nach der Erfahrung und Wiederholbarkeit einer lebendigen Vergangenheit. Diese Vorstellungen genauso wie damit verbundene elementare Denkfiguren begleiteten die Geschichtswissenschaft seit ihrer Begründung Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute.

Sie erneuerten und aktualisierten sich und wurden Teil des Habitus des geschichtlichen Denkens, der uns - wie Sigfried Kracauer es formulierte - vor seiner Existenz unsere Augen schließen lässt. Die Verwissenschaftlichung der Geschichte hätte die Probleme entstellt, mit denen sich historisches Forschen stets auseinandersetzen muss; wie zum Beispiel dem Gegensatz von An- und Abwesenheit, Teil und Ganzem, etc.

Derartige Überlegungen in Form einer geschichtlichen Erzählung wahrnehmbar zu machen, ist eines der erklärten Ziele meiner Arbeit.
Archive im Plural denken
Gegenwärtig wird das Archiv häufig als totale Instanz beschrieben. Visionen vom Zeitalter des Digitalen situieren uns heute im Inneren eines ungeheuren Archivs. In einem Archiv, das kein Außen mehr kennt.

Ähnlich hatte vor rund vier Jahrzehnten der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault dafür plädiert, das Archiv als Instanz zu beschreiben, die alle in einer Epoche überhaupt möglichen Aussagen versammelte. Dieses Modell gewann in den vergangenen Jahren eine gewisse theoretische Attraktivität. Das Archiv rückte in der kulturwissenschaftlichen Theorie dadurch häufig in den Singular.

Für das Denken des Archivs im Zeitalter der Geschichte war jedoch nicht nur die Unterscheidbarkeit von Innen und Außen konstitutiv, sondern auch, dass es stets mehr als ein Archiv geben musste. Denn so entstand ein Modell der Repräsentation, das die Vergegenwärtigung des Vergangenen möglich machte, indem sie es in Form von alten Papieren verkörperte.

Von daher lässt sich nur über den Umweg der Historisierung ein aktuelles theoretisches Modell entwickeln, das die Archive im Plural denkt.

[16.3.09]
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Über den Autor
Mario Wimmer war Kurator der Ausstellung "Das Gedächtnis von Mauthausen" und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Seit April 2005 ist er Mitglied des Graduiertenkollegs "Archiv, Macht, Wissen" an der Universität Bielefeld. Im Frühjahr 2008 erhielt er das Gerda-Henkel-Stipendium für Ideengeschichte am Deutschen Literaturarchiv. Derzeit ist er Junior Fellow am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien.
->   Mario Wimmer, IFK
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->   Mario Wimmer, Clio-online
 
 
 
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01.01.2010