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Krebs: Glaube hilft - nicht immer  
  Gläubige Krebspatienten verbringen die letzte Woche ihres Lebens häufiger auf der Intensivstation. Was Mediziner nicht unbedingt positiv sehen: Das zögere das Sterben zwar hinaus, mache es aber auch leidvoller.  
Religion als Stütze
"Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenn's ihm gut geht und eine, wenn's ihm schlecht geht. Die letzte heißt Religion." Auch wenn man Kurt Tucholskys Ausspruch nicht unbedingt als wissenschaftliche Aussage lesen wird, medizinische Untersuchungen scheinen ihm durchaus Recht zu geben. Viele Menschen entdecken ihre spirituelle Seite in Zeiten der Krise, zumal wenn es um gesundheitliche Dinge geht:

Laut einem Bericht im "Journal of Clinical Oncology" (Bd. 5, S. 555) geben immerhin 88 Prozent aller Patienten mit fortgeschrittenem Krebsleiden an, dass ihnen Religion und Spiritualität bei der Bewältigung ihres Leidens hilft.

Diesen Zusammenhang hat nun Holly G. Prigerson genauer untersucht. Die Psychiaterin vom Dana-Farber Cancer Institute interviewte zu diesem Zweck 345 unheilbar kranke Krebspatienten und beobachtete deren Krankengeschichte bis zum Tod. Die Interviews bestätigten zunächst, was man schon aus anderen Studien wusste: 79 Prozent sagten, dass ihnen die Religion in ihrer desparaten Lebenssituation "zumindest moderat" helfe, 56 Prozent gaben an, täglich zu beten, zu meditieren oder religiöse Schriften zu studieren. Und immerhin ein knappes Drittel der Befragten stimmte folgendem Satz zu: "Religion ist die wichtigste Sache, die einen nach vorne blicken lässt."
Aggressive Therapien
Das hat offenbar handfeste medizinische Konsequenzen, wie Holly Prigerson betont: "Menschen, die in Erwartung des eigenen Todes bei der Religion Zuflucht suchen, empfangen an ihrem Lebensende aggressivere Behandlungsformen." Wie sie mit ihren Kollegen im Fachblatt "JAMA" (Bd. 301, S. 1140) schreibt, haben religiöse Patienten eine drei Mal höhere Chance auf intensivmedizinische Interventionen, wie etwa künstliche Beatmung und Reanimation.

Das mag zunächst positiv klingen, ist aber durchaus ambivalent. Denn wie andere Studien zeigen, erweist sich die intensivste Therapie meist auch als jene, die den Körper am meisten fordert. Manche Behandlungsformen mögen vielleicht den Tod Tage oder Wochen hinauszögern, schöner werden dadurch des Patienten letzte Stunden allerdings nicht - im Gegenteil: Der Zeitgewinn wird in der Regel mit zusätzlichem Leid und Mühsal bezahlt.
Motivsuche: Göttliche Heilungen
Warum Religiosität die klinische Praxis so deutlich beeinflusst, haben Prigerson und ihr Team nicht explizit erhoben, ein paar Erklärungsansätze bieten sie aber dennoch an. Gläubige könnten sich etwa deswegen für aggressive Therapien entscheiden, weil sie hoffen, Gott würde sie verwenden, um in den Heilungsprozess einzugreifen.

Das würde zu einer Befragung passen, die letztes Jahr in den "Archives of Surgery" (Bd. 143, S. 730) veröffentlicht wurde. Darin zeigten sich mehr als die Hälfte der interviewten US-Amerikaner der Überzeugung, Gott könne einen Patienten selbst dann noch heilen, wenn die Ärzte bereits jede Hoffnung aufgegeben hätten. Bemerkenswertes Detail: In der Untersuchung wurden auch Unfallchirurgen befragt, bei ihnen vertraute immerhin jeder Fünfte auf Gott als (letzten) Lenker zwischen Leben und Tod.
Ungeliebte Patientenverfügungen
Der Hang zur aggressiven Therapie könnte freilich auch profanere Gründe haben: Die US-Medizinerin Maria Sullivan fand vor fünf Jahren heraus, dass Gläubige Patientenverfügungen mit einem Reanimationsverbot nicht selten für unmoralisch halten.

In diese Richtung deutet auch die in einschlägigen Interviews geäußerte Überzeugung, dass man die Hoffnung niemals aufgeben dürfe, und sei die medizinische Prognose noch so schlecht. Den Kampf gegen die Krankheit verloren zu geben, hieße dieser Logik zufolge auch Gott aufzugeben. Was allerdings für viele bedeutet, dass sie - bewusst oder unbewusst - auf einen möglichst sanften Tod mit palliativmedizinischer Unterstützung verzichten.

Für Holly Prigerson ist jedenfalls klar: "Die Art und Weise, wie kranke Menschen ihr schweres Schicksal bewältigen, beeinflusst die Therapie - besonders dann, wenn es sich um eine religiöse Form der Bewältigung handelt. Kliniker sollten daher in Zukunft aufmerksam gegenüber dem Glauben ihrer Patienten sein."

Robert Czepel, science.ORF.at, 18.3.09
->   Dana-Farber Cancer Institute
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01.01.2010