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Die Gedächtniskultur wird global
Vom Holocaust bis zu 9/11
 
  Geschichte wird nach wie vor mehrheitlich aus nationalen Blickwinkeln geschrieben. Dennoch gibt es auch eine Tendenz zu einer globalen Gedächtniskultur, meint der Historiker Berthold Molden. Zentrales Beispiel dafür ist der Holocaust.  
Der industrielle Massenmord an den Juden wird weltweit aber auf höchst unterschiedliche Art und Weise "verwendet". In Guatemala etwa ist Molden auf Untergrundkämpfer gestoßen, die den Begriff für ihr eigenes Leid anwenden und zugleich antisemitisch argumentieren.

Globalisiert scheint somit weniger das Wissen um Geschichte als der politische Umgang mit ihr, meint der Historiker und Sohn des Verlegers Fritz Molden in einem science.ORF.at-Interview.
science.ORF.at: Geht es Ihnen auf die Nerven, wenn man Sie auf Ihren Nachnamen anspricht?

Berthold Molden: Ein bisschen. Kommt drauf an.

Der Namen Molden steht für den Europagedanken, für Alpbach, für den Versuch nationale Geschichtsschreibungen zu relativieren. Wie steht das im Zusammenhang mit Ihrem Thema der Globalisierung von Gedächtniskultur?

Mein Beruf, meine Affinität zur Geschichte hat sicher etwas mit meinem Hintergrund zu tun. Die Weise, wie in unserer Familie Geschichte betrachtet wurde, hat mich vielleicht dazu gebracht, Geschichtswissenschaft kritisch zu hinterfragen. Die Art, wie europäische Geschichte erzählt wird, hat sich seit 1945 immer wieder stark verändert. Es gab die paneuropäische Bewegung, die u.a. durch Alpbach ausgedrückt wurde, es bildeten sich die kommunistischen Staaten, auch eine Integration von Teilen Europas, wenn auch eine stalinistische.

Früher gab es unterschiedliche panslawische Bewegungen, aber auch die Reformvorstellung der Habsburger-Monarchie etc. Jugoslawien war ein Integrationsmodell. Diese Elemente wurde sukzessive zugunsten einer EU-Integrationsgeschichte zurückgedrängt, aus der nach der Überwindung des Kommunismus 1989 eine Siegergeschichte geworden ist.
Was bedeutet das nun für Ihre Forschungspraxis?

Ich bemühe mich mit den Kollegen des Ludwig Boltzmann Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit, diese politisch motivierten Meistererzählungen aufzubrechen und die Kontingenz transnationaler europäischer Geschichte herauszuarbeiten. Gleichzeitig bedeutet das, wieder zurückzugehen auf "Geschichte von unten". Wir analysieren nicht nur die Elitendiskurse, sondern wollen Sozial- und Alltagsgeschichte schreiben.

Das heißt auch, dass uns nicht nur die Struktur, sondern gerade die Akteure der Geschichte interessieren. Wie ein historisches Ereignis erinnert wird, hängt natürlich von lokalen und kollektiven Gedächtnissen ab. Diese sind aber immer sehr spezifisch, hängen stark von Erfahrungsgemeinschaften ab und lassen sich nicht nur durch nationale Erinnerungskulturen erklären. Und das betrifft natürlich auch die Globalgeschichte.
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Am Montag, 23. März 18 Uhr c.t., hält Berthold Molden den Vortrag "Auf der Suche nach dem globalen Gedächtnis. Universalisierung der Holocaust-Erinnerung".
Ort: Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Wenn man an Globalisierung denkt, fallen einem sofort Produkte ein, auf denen "Made in China" steht. Was würde auf dem Stempel stehen, der die globale Erinnerungskultur prägt?

"Made in Europe" oder "Made in Euroatlantic Culture". Das klassische Beispiel dafür ist das Holocaust-Gedächtnis. Seit 1945 und verstärkt seit den 70er Jahren gibt es dabei in den USA, Europa und Israel eine starke Konvergenz, was die Inhalte betrifft. Man bezieht sich sehr ähnlich auf den Holocaust, er ist in die Populärkultur eingegangen durch Literatur, Filme und TV-Serien. Der Begriff ist über die Globalisierung der Medien globalisiert worden. Und tatsächlich wird er überall da aufgegriffen, wo es auch einen Resonanzraum für ihn gibt.
Sie haben das selbst in einem entfernten Land wie Guatemala erlebt ...

Es gibt dort den Begriff des "Holocausto Maya". Da wurde die Ermordung der europäischen Juden ihrer historischen Bedeutung entkleidet. Holocaust steht nun für "schlimmstmögliches Verbrechen", nämlich dem Völkermord an den Mayas. Ich habe Interviews gemacht mit indigenen Guerilleros: Die gleichen Personen, die den Holocaust-Begriff dafür in Anspruch nehmen, was den Mayas angetan wurden, haben mir von Hitler vorgeschwärmt, weil er mit den Juden "aufgeräumt" hat.

Der Antisemitismus in Guatemala hat wie so oft nichts mit dort lebenden Juden zu tun, sondern in dem Fall mit der internationalen politischen Situation der 80er Jahre: Massaker an der indigenen Bevölkerung wurden damals unter anderem mit Hilfe israelischer Waffen durchgeführt.

Das wurde in einen linken antizionistischen Diskurs eingeschrieben, und plötzlich waren die Juden schuld an der Ermordung von Mayas. "Holocausto Maya" suggeriert auf der einen Seite ein Schwesternschicksal der Juden, zugleich gibt es aber einen sehr starken Antisemitismus.
Ist das schon Ausdruck eines, wenn auch verworrenen Globalgedächtnisses?

Ich würde sagen Nein. Es ist wohl eher eine Diffusion von historischem Wissen, das oberflächlich bleibt. Was wirklich globalisiert wird, ist Geschichtspolitik d.h. der Umgang mit Geschichte, politische Praktiken, die sich in ihrem Diskurs auf Geschichte beziehen.

Die Auseinandersetzung mit Geschichte wird mit ähnlichen Voraussetzungen und Zielsetzungen geführt, Aufarbeitung ist das neue Paradigma, es gibt Wahrheitskommissionen, die Notwendigkeit, überhaupt historische Schuld aufzuarbeiten und den Opfern eine Stimme in der Gesellschaft zu verleihen: Alles das ist wirklich globalisiert, und in diesem spezifischen Globalisierungsprozess hat der Holocaust eine große Rolle gespielt.

Er hat eine historische und eine moralische Bedeutung, und auf letztere beziehen sich die indigenen Guatemalteken, wenn sie ihn heute verwenden.
Worin besteht nun das globale Gedächtnis?

Ich denke, man sollte differenzieren: Erinnerungskulturen gibt es auf verschiedenen Ebenen, nationalen, regionalen, lokalen, familiären etc. Diese unterscheiden sich, überlappen aber auch, und ähnliches gilt auch für das globale Gedächtnis. Das Geschichtsbild von Menschen, die globale Medien konsumieren, wird von diesen Medien auch geprägt.

Doch das allein schafft noch keine globale Version des kollektiven Gedächtnisses, wie Maurice Halbwachs gesagt hat. Entscheidungs- und Bildungseliten haben auf globaler Ebene eine Erinnerungskultur, über die Globalisierung von Bildungssystemen und Populärkultur werden globale Referenzen zunehmen, aus denen so etwas wie ein globales Gedächtnis entstehen kann.

Es kommt aber darauf an, wie diese globalen Bezüge mit den jeweils gruppenspezifischen Gedächtnissen bestimmter lokaler oder nationaler Erfahrungsgemeinschaften in Verbindung treten.
Was wäre so eine globale Referenz?

Davon ausgehend, dass es immer lokale Deutungen gibt, würde ich sagen, dass der 11. September etwas ist, das in das Globalgedächtnis eingegangen ist.

Mehr noch als der Zweite Weltkrieg, der etwa im südlichen Afrika kaum rezipiert wurde. 9/11 ist bereits in die Zeit der globalisierten Medien gefallen. Der berühmte Spruch "Wo war ich an dem Tag?" zeigt bereits, dass die Menschen biographisch berührt wurden. Das Ereignis hat wirklich jeden betroffen, der an dem Tag ferngesehen hat.

Im Sinne von Halbwachs wäre eine globale Medienarena und deren Leitdiskurse - denn auch hier gibt es ja mehrere - ein sozialer Gedächtnisrahmen, in dem ein allgemein bekanntes Ereignis mit Sinn belegt und so in eine kollektive Erinnerung verwandelt wird.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 23.3.09
->   Berthold Molden, IFK
->   Berthold Molden, LBI für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit
->   Biografie Maurice Halbwachs (Uni Graz)
 
 
 
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01.01.2010