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US-Mediziner fälschte Dutzende Studien  
  Die Affäre könnte sich zum größten wissenschaftlichen Betrugsfall in der jüngeren Geschichte auswachsen: Der amerikanische Anästhesist Scott Reuben hat vermutlich mehrere Dutzende Studien im Laufe seiner Karriere gefälscht. Wichtige Empfehlungen der Schmerztherapie, die Millionen von Menschen betreffen, gehen auf sein Konto.  
US-Medien nennen Reuben daher in Anspielung auf den ebenfalls überführten Finanzjongleur mittlerweile den "Madoff der Medizin".

Heimische Ärzte geben aber Entwarnung: Der Schmerztherapeut Hans-Georg Kress vom AKH Wien hält es für unwahrscheinlich, dass Patienten durch die gefälschten Studien falsch behandelt wurden.
Mindestens 21 Arbeiten nicht in Ordnung
Erstmals berichtet wurde über den Fall in der Fachzeitschrift "Anesthesia & Analgesia", in der auch ein Großteil der gefälschten Studien erschienen ist. Reuben auf die Spur gekommen ist zum ersten Mal Hal Jenson, ein Vorgesetzter am Baystate Medical Center in Springfield, wo Reuben seit Anfang der 1990er Jahre gearbeitet hat.

Jenson stellte bei einer Routineuntersuchung vergangenen Mai fest, dass Reuben zwei Studien ohne Genehmigung des Medizinischen Zentrums durchgeführt hat.

In der darauffolgenden Untersuchung zeigte sich, dass mindestens 21 der insgesamt 72 von Reuben veröffentlichten Studien mit gefälschten Daten operierten. Reuben arbeitet seit Mai des Vorjahrs nicht mehr am Baystate Medical Center.
->   Anesthesia & Analgesia: Liste aller gefälschten Studien
Verfechter von COX-2-Hemmern
Scott Reuben gilt laut "Anesthesia & Analgesia" als einer der Pioniere der multimodalen Schmerztherapie, bei der Symptome mit einer Reihe unterschiedlicher Mittel gemeinsam behandelt werden. Seit Beginn des Jahrtausends argumentierte er dafür, nichtsteroidale Antirheumatika (NSAIDs) in der Schmerzbekämpfung durch sogenannte COX-2-Hemmer zu ersetzen.

Das bekannteste dieser entzündungshemmenden Medikamente ist Rofecoxib (Markenname: Vioxx). Vielleicht ein Glück für eventuell strafrechtliche Konsequenzen für Reuben: Das Medikament wurde 2004 vom Markt genommen, nachdem Studien einen Zusammenhang mit einem erhöhten Herzinfarktrisiko gezeigt hatten.
Deutschsprachige Experten geben Entwarnung
Die "New York Times" nennt die Causa Reuben "einen der längsten und weitreichendsten Fälle von akademischem Betrug". Wie die praktischen medizinischen Konsequenzen einzuschätzen sind, darüber gehen die Fachmeinungen noch auseinander.

Hans-Georg Kress, Leiter der Abteilung für Spezielle Anästhesie und Schmerztherapie am AKH Wien, hält die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten zu Schaden gekommen sind, für sehr gering. Aber: "Reuben ist ein sehr renommierter Autor und Vielschreiber, der auch drei bis vier Review-Arbeiten pro Jahr geschrieben hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Metaanalysen durch seine falschen Studien in ihrer Schlussfolgerung beeinflusst worden sind," meinte er gegenüber der Ö1 Wissenschaft.

Christoph Stein, Schmerzspezialist an der Berliner Charite, bezeichnete Reuben im "Tagesspiegel" zuvor als "Trittbrettfahrer". Die Fälschungen seien zwar eine moralische Katastrophe, "für unser Fach, werden wir aber nichts ändern oder überarbeiten müssen. Patienten brauchen nicht verunsichert zu sein."

Im Gegensatz dazu steht die Einschätzung von Steven Shafer, dem Herausgeber von "Anesthesia & Analgesia". Er geht davon aus, dass "Millionen von Menschen weltweit, deren Schmerzen nach Operationen behandelt werden, von den Studien Reubens betroffen sind".
Weitere Verfehlungen
Reuben hat nicht nur die Daten seiner Studien gefälscht, sondern auch noch andere Übertretungen der akademischen Gepflogenheiten begangen. So hat er mindestens einen Forscherkollegen ohne dessen Wissen und Einwilligung zum Ko-Autor einer Studie gemacht. Wie der "Scientific American" berichtet, ist auch die Finanzierung von Reuben zum Teil mysteriös.

Mindestens fünf Jahre lang wurden seine Studien vom Pharmariesen Pfizer finanziert, das Baystate Medical Center verfügt allerdings keine Unterlagen darüber. "Das ist sehr ungewöhnlich", meint Steven Shafer. Pfizer selbst weist jeden Verdacht von Unregelmäßigkeiten von sich.
Hätte Fall früher auffliegen können?
Hans-Georg Kress zeigt sich von der Causa Reuben prinzipiell nicht überrascht. Ein Indiz, das schon früher auffallen hätte können, sei die hohe Anzahl von Reubens Veröffentlichungen. "Jeder der selbst wissenschaftlich und klinisch tätig ist, weiß, dass es zeitliche Limits gibt", meinte er gegenüber der Ö1 Wissenschaft.

Dass dies den Journalen nicht aufgefallen ist, begründet er zum Teil mit dem Peer-Review-System. Da selbst bei den wichtigsten Fachzeitschriften die Autoren der eingereichten Studien bekannt sind, würden renommierte Forscher einen Vertrauensvorschuss bekommen und nicht so kritisch hinterfragt wie andere - und genau als ein solcher galt Scott Reuben.

[science.ORF.at, 25.3.09]
->   NY Times zu dem Fall
->   Artikel im "Scientific American"
->   Scott Reuben, Wikipedia
->   Baystate Medical Center, Springfield
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Radio-Hinweis
Der Fälschung von Scott Reuben widmet sich auch ein Beitrag im Ö1 Dimensionen Magazin am Freitag, den 27.3.09, 19.05 Uhr Radio Österreich 1.
->   oe1.ORF.at
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01.01.2010