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Dschihadismus: Nachtseite der Moderne
"Schlimmstenfalls global erfolgreiche Jugendbewegung"
 
  Dschihadisten wollen mit kriegerischen Mitteln dem Islam zum Erfolg verhelfen. Für den Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker von der Universität Wien sind sie keine finsteren Gestalten aus dem Mittelalter, sondern gehören zur Moderne - wenn auch zu deren "Nachtseite". Auch ihr Pop- und Coolnessfaktor sei nicht zu unterschätzen, meint er in einem science.ORF.at-Interview.  
Wie die Gedankenwelt der Religionskämpfer aussieht, hat Lohlker in einem soeben erschienenen Buch skizziert.

Darin hat er die wichtigsten Materialien des Dschihadismus aus Liedern, TV-Videos, Online-Foren und anderen Quellen gesammelt.
science.ORF.at: Was heißt Dschihadismus?

Rüdiger Lohlker: Ein Neologismus, abgeleitet von "Dschihad". Diese Strömung sieht den militärischen Kampf als zentral für den Islam. Damit unterscheidet sich der Dschihadismus von anderen Strömungen im zeitgenössischen islamischen Denken.

Wann taucht der Begriff zum ersten Mal auf?

Nach dem Einmarsch der Roten Armee 1979 in Afghanistan. Auch früher gab es Bewegungen, die den Dschihad als militärischen Kampf verstanden. Sie waren aber immer national begrenzt, etwa in Ägypten. Das Überschreiten der nationalen Grenzen finden wir erst ab Afghanistan, die pakistanische Stadt Peschawar wurde zum Laboratorium dieser transnationalen Strömung.
Kann man das noch genauer eingrenzen?

Es gibt einzelne Personen, wie z.B. den mittlerweile getöteten Palästinenser Abdallah Assam. Er kam nach Pakistan zur Unterstützung des afghanischen Widerstands gegen die Rote Armee und gilt als erfolgreichster Propagandist beim Einsammeln von Geldern und beim Rekrutieren von Kämpfern. Oder Omar Abdarrahman, der wegen des ersten Attentats auf das World Trade Center in New York noch immer im Gefängnis sitzt. Alle wichtigen Dschihadisten findet man in Pakistan oder Afghanistan.
Der gemeine christliche Volksmund sagt: "Der Islam" war immer schon gewalttätig, "Feuer und Schwert" steht schon im Koran. Wie ist das Verhältnis des Korans zum Dschihad tatsächlich?

Zum einen: Dschihadisten argumentieren natürlich mit dem Koran, sie glauben ihn als einzige richtig zu verstehen. Jene, die nur theologische Reden schwingen, sind für sie nicht akzeptabel, die Tat ist für sie das entscheidende Merkmal. Der Koran ist aber keine unhistorische Kampfschrift, sondern vielfältig interpretierbar.

Auch der Begriff des Dschihad wurde schon in der Frühzeit des Islam sehr unterschiedlich interpretiert. Es gab immer wieder Leute, die die Koranverse als Aufruf zum militärischen Kampf verstanden haben. Wenn wir aber genauer hinschauen, dann sehen wir den historischen Kontext, in dem so eine Bedeutung zentral geworden ist. Kurz gesagt: Der Islam ist nicht gewalttätiger als jede andere Religion.
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Buch-Hinweis
Das Buch "Dschihadismus - Materialien" von Rüdiger Lohlker ist im Verlag facultas wuv UTB erschienen.
->   Mehr über das Buch bei UTB
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Dschihadismus ist aus westlicher Sicht vor allem eines: Terror.

Ich halte Dschihadisten für das islamische Gegenstück zu Marxisten-Leninisten, die wie bei uns in den 60er/70er Jahren zur Waffe greifen usw. Wenn wir das marxistisch-leninistische Vokabular vergessen und eine gehörige Portion Islam hineintun, sind sie einander sehr ähnlich. Äußerst verblüffend.

Der linksradikale Terrorismus galt in manchen Kreisen als cool, bediente auch die Populärkultur ...

Der Coolnessfaktor ist auch bei Dschihadisten nicht zu unterschätzen. Aus Untersuchungen weiß man, dass die jungen Menschen zum Teil auch Spaß an gewaltsamen Aktionen haben. Fast ein Fünftel bewaffneter Kämpfer gab bei einer Umfrage als Ziel "einfach zu reisen" an. Im schlimmsten Fall wird aus dem Dschihadismus eine global erfolgreiche Jugendbewegung.
Es gibt zwei Gassenhauermeinungen zum Islam: Die einen sagen, er ist "noch nicht so weit wie wir" und steckt noch im Mittelalter, die anderen meinen im Gegenteil, er ist ein typisches Phänomen der Moderne, eine Reaktion auf eine westliche, verwestlichte Welt. Ich nehme an, sie glauben an Zweiteres.

Ja, wir müssen aber aufpassen, was Moderne bedeutet. Sie ist keine rein aufklärerische Bewegung, auch wenn das schön wäre, Adorno und Horkheimer haben auch von der Nachtseite der Moderne geschrieben. Auf dieser Nachtseite liegt auch der Dschihadismus.

Dagegen ist die breite muslimische Diskussion der Gegenwart ganz anders bemüht, eine Position innerhalb der Moderne und der sich globalisierenden Welt zu finden. Manchmal gibt es Berührungspunkte mit Dschihadisten, die häufig mit wenig Erfolg versuchen, reale Problembereiche zu thematisieren.

Man muss den Dschihadismus von nationalistischen Bewegungen unterscheiden, die wie die Hamas der Palästinenser oder die Hisbollah im Libanon Ausdruck realer politischer und sozialer Konflikte sind. Diese Konflikte können auch gelöst werden. Der transnationale Dschihadismus kümmert sich hingegen nicht um reale Probleme, sondern visiert einen allgemeinen Umsturz der bestehenden Weltordnung an.
Im Buch lassen Sie vor allem Originalakteure sprechen, wie haben Sie die ausgewählt?

Es sind nicht unbedingt die Meinungen von Medienstars wie Osama Bin-Laden. Seine Videos mögen interessant sein, bestimmend für die Diskurse sind sie aber nicht. Deswegen zielt meine Auswahl auf die wirklich wesentlichen Akteure mit einer großen Bandbreite ab.

Für diese Bandbreite haben Sie u.a. den TV-Nachrichtensender Al-Jazeera geschaut und sind Stammgast in Internetforen. Sehen sie dabei irgendwelche Tendenzen?

Die großen Online-Foren werden zunehmend geschlossen, insofern ist mein Buch auch ein historischer Schnappschuss. Die Diskussion hat sich in das Web 2.0 mit geschlossenen Gruppen verlagert, man muss sich anmelden etc. Meine Arbeit wird dadurch nicht leichter.
Gibt es bei den Diskussionen Veränderungen?

Ja, strategische Fragen werden wichtiger. Die Auseinandersetzung innerhalb der Dschihadisten, wie sie in einer globalen Situation erfolgreicher werden, wird weniger theologisch, sondern zunehmend pragmatisch geführt. Fragen wie: Wie können wir eine effektive Zellenstruktur aufbauen, wie Propaganda?

Die dschihadistische Propaganda wurde quasi outgesourced an Amateure und Freiwillige, die dann die Nachrichten verbreiten. Dazu gibt es ja auch in Österreich "erfolgreiche" Beispiele.
D.h. die Dschihadisten werden professioneller und erwachsener?

Ja, oder zumindest flexibler und dadurch schwerer zu bekämpfen. Die dschihadistischen Bewegungen werden so schnell nicht verschwinden. Man soll ihre Gefahr aber auch nicht überschätzen, der Straßenverkehr ist statistisch in Europa noch immer eine größere Bedrohung für Leib und Leben.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 27.3.09
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Rüdiger Lohlker lehrt Islamwissenschaften am Institut für Orientalistik der Universität Wien.
->   Rüdiger Lohlker, Uni Wien
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->   Weblog Rüdiger Lohlker
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Islam im Internet: Fatwa, Politik und Heiratsagenturen
 
 
 
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01.01.2010