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Breitengrad-Effekt: Mehr Töchter in den Tropen  
  Das Geschlecht von Neugeborenen hat einer Studie zufolge etwas mit dem Wohnort der Eltern zu tun. In den Tropen kommen offenbar mehr Mädchen auf die Welt als im globalen Durschnitt. Im Norden ist es umgekehrt.  
Ein Problem, zwei Lösungen
Gene oder Umwelt? Kaum ein Gegensatz hat im Lauf der Biologiegeschichte Anlass zu so vielen Fehlinterpretationen und ideologischem Wunschdenken gegeben, sei es nun auf der "rechten" Seite der Erb- oder auf der "linken" der Milieufaktoren. Relativ unverfänglich scheint die Unterscheidung zumindest bei der Geschlechtsbestimmung zu sein.

Im Tierreich wurden jedenfalls beide Varianten verwirklicht: Entweder legen die Gene fest, ob der Nachwuchs ein Bub oder Mädel wird (wie beim Menschen), oder bestimmte Umwelteinflüsse. Wobei letzteres - zumindest aus unserer Sicht - einer durchaus kuriosen Dramaturgie folgen kann.

Beim Igelwurm Bonellia entwickeln sich die Larven beispielsweise erst dann zu Männchen, wenn sie kurz zuvor eines Weibchens ansichtig wurden. Bleibt das zufällige Rendezvous aus, dann nimmt die Entwicklung den Pfad in Richtung Weibchen. Bei manchen Reptilien, Schildkröten und Alligatoren etwa, bestimmt wiederum die Temperatur das Geschlecht, was ebenfalls Raum für eine gewisse Willkür lässt.
Buben in der Überzahl
Doch gar so fix dürfte auch unser System mit X- und Y-Chromosomen nicht sein, wie eine Studie in den "Biology Letters" der Royal Society zeigt (Online-Veröffentlichung). Kristen J. Nava von der University of Georgia hat sich die Geburtsdaten der Jahre 1997-2006 bei 202 Ländern angesehen und eine leichten Überhang von männlichen Babys festgestellt.

Das entspricht auch den Ergebnissen früherer Studien, das Geschlechtsverhältnis beim Menschen ist zwar fast, aber eben nicht ganz ausgeglichen. Buben sind demzufolge mit etwas mehr als 51 Prozent in der Überzahl.
Feminine Tropen
Wie hoch oder niedrig die Kommastelle dahinter ausfällt, hängt offenbar auch von der Herkunft der Neugeborenen ab, wie Navar in ihrer Arbeit nachweist. In tropischen Ländern liegt der Prozentsatz männlicher Babys bei 51,1, in temperaten und subarktischen Breiten hingegen bei 51,3. Das mag auf den ersten Blick keine besonders hohe Differenz sein, erklärungsbedürftig ist sie dennoch. Denn die Statistik schließt Zufall als Ursache aus.

Die Evolutionsbiologie erklärt derartige Verschiebungen meist mit dem Konzept der Fitnessoptimierung: Dieser Theorie zufolge passen Tiere das Geschlechtsverhältnis an die jeweils herrschenden Lebensbedingungen an. In üppigen Phasen investieren Eltern tendenziell in Söhne, weil sie im Optimalfall mehr Gene an die nächste Generation weitergeben können. In schlechten Zeiten, wenn das Risiko eines Totalausfalls vermieden werden muss, sind hingegen Töchter bevorzugt.

Diese Argumentation böte sich auch für Homo sapiens an, schließlich ist die Versorgungslage in Europa und Asien bedeutend besser als in Afrika. Doch Nava betont: Zwischen Breitengrad und sozioökonomischem Status lässt sich kein Zusammenhang feststellen, folglich muss es eine andere Erklärung für das Phänomen geben.
Erklärungs-Stückwerk
Wie die aussehen könnte, ist allerdings unklar. Zurzeit hat man lediglich Hinweise von Tierarten zur Hand, bei denen es offenbar ähnliche Zusammenhänge gibt. Von sibirischen Hamstern weiß man etwa, dass sie mehr Söhne produzieren wenn die Tageslänge abnimmt. Ähnlich verhält es sich bei Feld- und Hausmäusen: Auch sie tendieren während der Wintermonate zu männlichem Nachwuchs.

Dass bei uns analoge Mechanismen wie bei diesen Nagetieren am Werk sind, ist nicht ganz unwahrscheinlich. Dokumentiert ist jedenfalls, dass übermäßige Hitze der Samenqualität abträglich ist und die Wahrscheinlichkeit einer Befruchtung mit der Tageslänge zusammenhängt (Human Reproduction, Bd. 7, S. 735).

Das wären Ansätze, um zumindest das "Wie?" des Breitengrad-Effekts zu erklären. Antworten auf die Frage "Wozu?" dürften indes noch länger auf sich warten lassen.

[science.ORF.at, 1.4.09]
->   Kristen J. Nava
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01.01.2010