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Welches Energiesystem sich die Bürger wünschen  
  Im März fand in Wien eine Konferenz zum Thema Energieversorgung statt. Das Besondere daran: Hauptakteure der Veranstaltung waren Bürgerinnen und Bürger. Aus ihren Erfahrungen sollen nun Politiker für die Gestaltung unserer Zukunft lernen.  
Von Jung bis Alt
Samstag früh in einem Wiener Seminarhotel: Wie vor den meisten Konferenzen üblich, stehen die Teilnehmer an Stehtischen, trinken Kaffee, rauchen. Im Gegensatz zu den meisten Konferenzen hingegen kennen sich die Teilnehmer hier noch nicht. Nicht Fachleute zu einem Thema treffen sich zum Stelldichein, sondern Bürger aus ganz Österreich.

Sie sind aus allen Bundesländern angereist, aus kleinen Dörfern oder großen Städten, mit dem Auto, mit der Bahn oder zu Fuß von nebenan; sind Studenten, Gemeinderätinnen, Biobauern, Akademiker oder Pensionisten. 35 Bürger und Bürgerinnen im Alter zwischen 19 und 72 Jahren finden sich ein und lassen sich an zwei Wochenenden im Sesselkreis des Seminarraums nieder.
Viele Telefonate
Die Bürger auszuwählen war keine leichte Angelegenheit. Über 4.000 Menschen haben die Mitarbeiter des Zentrums für Soziale Innovation (ZSI) in den Wochen davor angerufen, ehe jene 35 gefunden waren. "Wir haben gewusst, dass wir mindestens 100 Menschen anrufen müssen, bis einer zusagt", sagt Josef Hochgerner, der wissenschaftliche Leiter des ZSI.

Die Teilnehmer repräsentierten einen Querschnitt der Bevölkerung - jung bis alt, Pflichtschulabsolvent bis Akademiker, aus Land und Stadt und aus allen Bundesländern.
Mitsprache für Bürger
Bürgerinnenkonferenzen wurden vor allem in den 1980er-Jahren in Dänemark entwickelt, wo Bürger die Folgen neuer Techniken besprachen. Bürgerkonferenzen gibt es bisher auch auf europäischer Ebene. In den letzten Wochen fand in Wien ein Teil der europäischen Bürgerkonferenz 2009 statt. Solche Treffen gab es auch in anderen EU-Ländern. Dabei geben Bürger aus allen 27 EU-Staaten ihre Wünsche über die Zukunft der EU an Politiker weiter.

Dieses Konzept hat die Initiative Risiko:dialog - getragen vom Umweltbundesamt und Radio Österreich 1 - nun für das Thema Energie genutzt. Manche der Teilnehmer haben schon Erfahrung mit dem Thema: "Bei uns in der Familie war Energiesparen auch vor der Konferenz schon ein Thema", sagt eine der Teilnehmerinnen. Ein teilnehmender Landwirt wollte bereits eine Biomasseanlage im Ort errichten, weitere Teilnehmer haben Sonnenkollektoren am Dach oder haben als Energieberater gearbeitet. Anderen waren die besprochenen Themen aber neu.
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Schwerpunkt Energiegesellschaft
Die Initiative Risiko:dialog von Radio Österreich 1 und dem Umweltbundesamt widmet sich derzeit dem Thema Ressourcen. Von Oktober 2008 bis März 2009 gab es dazu den Dialogschwerpunkt "Energiegesellschaft". Im Zuge des Schwerpunkts erschienen auf science.ORF.at etwa alle zwei Wochen Beiträge zum Thema Energie. Zur Bürgerinnenkonferenz wird es auch einen Beitrag im Ö1 Dimensionen-Magazin geben: Sendetermin: 3.4.09, 19.05 Uhr
->   Risiko:dialog
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Expertendiskussionen und Arbeitsgruppen
Am zweiten Wochenende hatten die Bürger Gelegenheit mit Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Umweltschutz zu diskutieren und diesen Fragen zu stellen. Eine Bürgerin nutze die Fragestunde kreativ-kritisch: Sie hinterfragte das eigene Verhalten der Experten - etwa ob diese Ökostrom beziehen, eine Biomasseheizung besitzen oder in den letzten beiden Jahren regelmäßig Eier aus biologischer Landwirtschaft gekauft haben. Als einfache Antwort reichte Handheben. Auch wenn nicht alle Experten immer aufzeigten - im Großen und Ganzen tun sie, was sie vorschlagen.

In kleineren Arbeitsgruppen entwickelten die Teilnehmer Empfehlungen, wie sie sich das Energiesystem der Zukunft vorstellen. Die Bürger formulierten dabei sowohl Ziele für das Verhalten jedes Einzelnen - also auch für sich selbst - wie auch Wünsche an die Politik und an Unternehmen.
Ein Kommuniqué mit 45 Empfehlungen
Herausgekommen ist ein Kommuniqué mit 45 konkreten Vorschlägen. In ihm werden unter anderem mehr Informationen zur Klimaverträglichkeit und Kostenwahrheit von Produkten gefordert, Bildung zum Thema durch Medien und in Schulen, sowie energiebewusstes Einkaufen und Verhalten.

Zudem solle die Wirtschaft die derzeitige Krise als Chance nutzen, um ein umweltfreundliches und nachhaltiges System zu schaffen. Auch Handlungsanreize wünschen sich die Bürger: Etwa dass Kleinverbraucher einen günstigeren Stromtarif zahlen, Großverbraucher hingegen einen höheren. "Wer um viel Geld einen beheizten Whirlpool für den Garten kaufen kann, kann sich im Winter dafür auch höhere Stromtarife leisten", sagt einer der Teilnehmer. Energiesparende Investitionen sollten nach dem Wunsch der Bürger vorfinanziert und langsam zurückgezahlt werden.
Marsch zu den Institutionen
Bis zur Energiewende ist es aber noch ein langer Weg. Ihn gehen die Organisatoren und Organisatorinnen vom Umweltbundesamt nach der Veranstaltung weiter. Vier Tage lang ziehen sie durchs Land und stellen das Kommuniqué Politikern und Interessensvertretern vor: Landespolitikern, Parlamentsklubs und Ministerien ebenso, wie der Gewerkschaft, der Industriellenvereinigung und Umweltschutzorganisationen. Bei manchen dieser Treffen sind auch einzelne Bürger und Bürgerinnen dabei. In den nächsten Wochen und Monaten werden die Bürgerinnen über die offiziellen Reaktionen informiert.

"Für uns war das ein ganz neuer Zugang, eine neue Methode", sagt Georg Rebernig, der Geschäftsführer des Umweltbundesamts nach der Übergabe des Kommuniqués, "wir sind es gewohnt naturwissenschaftlich zu arbeiten, auf Messergebnisse und Statistiken zu schauen". Um das Bild zu vervollständigen, wollte man nicht nur naturwissenschaftliche Zahlen und Fakten beobachten, sondern auch die Meinung der Gesellschaft hören. Inhaltlich haben die Bürger und Bürgerinnen laut Rebernig "den Finger wirklich in die Probleme hineingelegt".
Vom Einzelnen bis zur Politik
Überrascht von der Qualität der Fragen und der Diskussion bei der Konferenz war Heinz Högelsberger, Energiereferent von GLOBAL 2000. Man habe es hier aber auch mit gut vorbereiteten Menschen zu tun. "Allgemein weiß man in der Bevölkerung, dass wir nicht so weiterwirtschaften können, wie bisher, aber die Verwirrung ist groß", sagt Högelsberger.

Ein einzelner Mensch könne durch sein Verhalten alleine in der Tat nicht den Klimawandel aufhalten. Daher fordert Högelsberger klare Rahmenbedingungen, die von der Politik vorgegeben werden und an die sich alle zu halten haben.
Breite Masse
Laut der Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb werden derzeit vor allem Handlungsweisen gefördert, die die Natur zerstören. Während vor 30 Jahren die Frage "Zwentendorf, ja oder nein?" lautete, müsse es heute die Frage "Änderung des Lebensstils, ja oder nein?" sein. Dies entscheide über das Schicksal der Menschheit. "Der breiten Öffentlichkeit ist noch nicht bewusst, dass wir mit der derzeitigen Lebensweise keine Zukunft vor uns haben", sagt Kromp-Kolb.

Josef Hochgerner vom ZSI sieht auch hier einen Vorteil der Bürgerkonferenz: "Die 35 Teilnehmer und Teilnehmerinnen gehen zurück in ihr persönliches Umfeld und nehmen viel mit. Sie sind Botschafter und Anwälte der Themen, die hier diskutiert wurden."

Oder wie es Wolfgang Jilek, Landesenergieberater der Steiermark, für seine Arbeit formuliert: "Wir beraten eigentlich die Falschen. Die, die zur Energieberatung kommen, sind schon engagiert. Wir müssen die große Menge an Leuten erreichen, die nicht engagiert ist".

Mark Hammer, science.ORF.at, 2.4.09
Die Bürger und Bürgerinnen im Wortlaut
Im Folgenden können jene Empfehlungen als Audiodatei gehört werden, die bei der Konferenz in einer Abstimmung die meisten Stimmen von den Bürgerinnen erhalten haben:
Empfehlungen an einzelne Bürger
 
Bild: Umweltbundesamt/Krischanz/Zeiller

Helga Eichinger, Sandra Brigritte Lengauer
->   Zum Audiofile
Empfehlungen an die Politik
 
Bild: Umweltbundesamt/Krischanz/Zeiller

Hannah Wechsler, Robert Santner, Johann Riefenthaler (ohne Bild)
->   Zum Audiofile
Empfehlungen an die Wirtschaft
 
Bild: Umweltbundesamt/Krischanz/Zeiller

Nikolaus Unterholzer, Andrea Bachträgl, Johannes Baltram
->   Zum Audiofile
Links zum Thema:
->   Europäische Bürgerkonferenzen
->   Zentrum für Soziale Innovation
->   Umweltbundesamt
->   Alle Beiträge zum Schwerpunkt Energiegesellschaft
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Was die Österreicher von der EU wollen
->   Was können Konsensuskonferenzen?
->   Über Bürgerkonferenzen
 
 
 
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01.01.2010