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Computertomograph lässt Mittelalter wieder klingen  
  Wenn Andreas Spindler die Drehleier spielt, steigen vor dem inneren Auge des Zuhörers Bilder von Bänkelsängern und Festgelagen in dämmrig-kalten Schlosskellern auf. Der durchdringende Klang scheppert ein bisschen, dennoch hört man über dem gleichmäßigen Grundton klar und deutlich eine Melodie emporsteigen.  
"Die Drehleier war das Kunst-Musikinstrument des hohen Mittelalters", betont Spindlers Vater Wolfgang, ein emeritierter Musikprofessor. Die Spindlers sowie Wissenschaftler weiterer Disziplinen entlocken der ältesten in Europa erhaltenen Drehleier derzeit ihre Geheimnisse - dank moderner Computertomographie.
Zufallsfund unter dem Fußboden
Dass die untersuchte Leier überhaupt die Jahrhunderte überdauert hat und nun der Wissenschaft zur Verfügung steht, ist einem Zufall zu verdanken: Vor 20 Jahren wurden beim Umbau eines Hauses in Konstanz die Bodenplanken entfernt.

"Dabei kam der alte Fußboden zutage, und unter dem alten Fußboden lagerte diese Drehleier", erzählt Wolfgang Spindler vom Forschungsinstitut Schloss Wernsdorf mit leuchtenden Augen am Donnerstag im mittelfränkischen Erlangen. "Die Leier wurde irgendwann zwischen 1400 und 1600 gebaut und dann versteckt, vielleicht aus kriegerischen Gründen."
Jeden Tag Musik
Weil die Griffe extrem abgegriffen sind, vermuten die Instrumentenbauer, dass die Leier bestimmt 200 Jahre lang gespielt wurde und durch die Hände ganzer Generationen ging. "Es gab nicht bloß die Sonntage, sondern auch Feiertage - an mindestens 104 Tagen im Jahr hat man Musik gebraucht", schildert Wolfgang Spindler. Hinzu kamen Hochzeiten, Taufen, Umzüge und andere Feste: "Es ist sicherlich ein Instrument, das jeden Tag gespielt wurde."

Nicht ungewöhnlich für die damalige Zeit, konnte die Drehleier doch etwas ganz Besonderes: Melodien und Rhythmen zur gleichen Zeit hervorlocken. Für die Musikwissenschaftler heute besonders faszinierend ist der Umstand, dass Deckel und Zargen genagelt und nicht geleimt sind. Um dem Instrument unbeschadet die Geheimnisse seiner Bauweise zu entlocken, ließen sie es kurzerhand von einem Computertomographen durchleuchten.
Leier-Tomographie
Klinisch steril ist es in dem Raum, in dem Boden, Wände und Schränke grau sind. Jalousien schirmen die Außenwelt ab, die Lüftung rauscht. Auf einer weichen Matte in der Mitte liegt die Jahrhunderte alte Leier - im Zentrum eines Computertomographen. Der entdeckt selbst winzig kleine Details im Inneren des Korpus; zum Beispiel die Löcher, die verrottete und herausgefallene Nägel hinterlassen haben.

Unter dem Spezialmessgerät des Instituts für Medizinische Physik (IMP) der Universität Erlangen-Nürnberg lagen schon Bohrkerne, Elektronikteile, Schmetterlinge und ein Altar. "Ähnlich wie beim Menschen kann man bei der Untersuchung ganz unterschiedliche Darstellungen erzielen", erläutert IMP-Direktor Willi Kalender.

So seien Außenaufnahmen wie bei einem Foto oder Bilder von Knochen und Gefäßen möglich, bei einer Auflösung von bis zu einem hundertstel Millimeter. Auch das wohl älteste bekannte Instrument des Mittelalters, eine Blockflöte, lag im Rahmen des Projekts schon unter dem Gerät.
Arbeiten mit Samthandschuhen
Die dabei entstehenden Schwarz-Weiß-Bilder setzen die Wissenschaftler anschließend zu einem dreidimensionalen Modell zusammen, das sie am Computer drehen, wenden und sogar von "innen" anschauen können.

Die Datenmengen der Drehleier aus Konstanz werden Studenten aus Gießen zusammenpuzzeln. Ziel ist es, bis zur Landesausstellung "Aufbruch in die Gotik" in Magdeburg (30.8.-6.12.) fertig zu sein. Die Besucher sollen das einmalige Exponat genau betrachten könne, ohne dass es dafür auseinandergenommen werden muss.

Im Moment fassen die Instrumentenbauer die Leier im wahrsten Sinne des Wortes nur mit Samthandschuhen an, um kein Körperfett an das Holz zu schmieren - und das Fett der Spieler aus dem Mittelalter nicht zu verwischen. Diese Stellen geben den Forschern nämlich wertvolle Hinweise, wie ein Instrument gehalten wurde.

Die vom Alter und Holzwurm gezeichnete Drehleier vom Bodensee soll schon bald wieder erklingen - als Nachbau. Mit drei bis sechs Monaten Bauzeit rechnet Experte Andreas Spindler. Aber: "Eine exakte Kopie geht einfach nur mit exakten Daten, sonst ist es nur eine Annäherung."

Elke Richter, dpa, 10.4.09
->   Drehleier - Wikipedia
->   Mittelalter - Wikipedia
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01.01.2010