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Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen
Tagung zum 100. Geburtstag von Ernst Gombrich
 
  Ernst Gombrich gilt als einer der bedeutendsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Wie kaum ein anderer Fachwissenschaftler hat er die engen Grenzen seiner Disziplin gesprengt. Er verstand es, seine wissenschaftliche Arbeit verständlich zu vermitteln. Sein Lebenswerk könnte das Motto haben: "Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen".  
Diese Kunst stand im Zentrum des Internationalen Symposiums des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs in Greifswald.

Es trug den Titel "Ernst Gombrich auf dem Weg zu einer Bildwissenschaft des 21. Jahrhunderts". Anlass war der 100. Geburtstag des Kunsthistorikers Ende März.
Vertreter des gesunden Menschenverstands
Im Eröffnungsvortrag bezeichnete Sybille-Karin Moser-Ernst, Professorin für Kunstgeschichte in Innsbruck und wissenschaftliche Leiterin des Symposiums, Gombrich als "Mann mit Bodenhaftung". Er sei vom gesunden Menschenverstand, vom Common sense ausgegangen, der "die Mühsal des ehrlichen Schaffens" betonte.

Besonders lehnte Gombrich die Auffassung der Kunst ab, wie sie etwa die Romantik oder der Surrealismus propagierte. Diese Auffassung zeigt sich in einem Zitat des Schriftstellers Novalis: "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen gebe, romantisiere ich es".
Gegen Hegel - für Popper
Gombrich wandte sich auch gegen jede metaphysische oder dogmatische Auslegung der Kunst. Dabei bezog er sich auf den kritischen Rationalismus seines Freundes Karl Popper, der dem Systemdenken Hegels und dem Dogmatismus von Karl Marx das Prinzip von "trial and error" gegenüberstellte. Das heißt, man sollte versuchen, jeder Theorie nachzuweisen, dass sie falsch sei. Gelinge das nicht, so bestehe die Möglichkeit, dass sie mit der Wirklichkeit übereinstimme.
Weiterentwicklung der These zur Zentralperspektive
Bild: APA/Robert Jaeger
Ernst Gombrich im Alter von 86 Jahren, sechs Jahre vor seinem Tod
Nach diesem Hinweis auf die "Bodenhaftung" Gombrichs kam die Sprache auf die Bedeutung seiner Bildtheorie für die Forschungsarbeit verschiedener Kunsthistoriker. Ausgangspunkt dabei waren Gombrichs Ausführungen über den Geltungsgrad der Zentralperspektive in der europäischen Malerei, deren historische Bedingtheit er betonte, und darauf verwies, dass sie keineswegs unser natürliches Sehen abbilde.

Die Zentralperspektive, also die Darstellung des Raumes auf einer zweidimensionalen Bildfläche, die dem Betrachter Sehbedingungen wie im wirklichen Raum vorgaukelt, spielte besonders im Tafelbild der Renaissance eine zentrale Rolle. Die Metapher dafür war das "offene Fenster", die der italienische Kunsttheoretiker und Architekt Leon Battista Alberti benutzte. Für Gombrich war dies jedoch bloß eine Hypothese.

Der in Hamburg lebende emeritierte Kunsthistoriker Werner Hofmann bezog sich auf diese These Gombrichs. Er sah in der Zentralperspektive die Grundlage für ein "monofokales, einansichtiges" Bild, in dem sich alles auf einmal überblicken lassen sollte. Dagegen stellte er das "polyfokale, mehransichtige" Bild, in dem die vermeintliche Einheit des Bildes aufgebrochen werden sollte.
Widerspruch ist Harmonie
Ein weiteres Stichwort für Hofmann war Gombrichs Rede von der "gestörten Form" oder von der "gestörten Norm". Gemeint ist damit, dass jedes Regelsystem bereits den Regelverstoß in sich birgt. In einem fulminanten Vortrag erwähnte Hofmann zahlreiche Beispiele aus der Philosophie und Kunstgeschichte. Dabei verwies er auf eine Äußerung von Wassily Kandinski, die so lautet: "Gegensätze und Widersprüche - das ist unsere Harmonie".

Dieses Denkmodell findet sich bereits bei Horaz, der von der "zweiträchtigen Eintracht" ("concordia discors" ) spricht, bei dem französischen Schriftsteller Charles Baudelaire ("homo duplex") oder bei Karl Marx ("In unserer Zeit ist alles mit seinem Gegenteil schwanger"). Wenn man nun von dieser Perspektive die Kunstgeschichte betrachtet, bemerkt man, dass in fast jeder künstlerischen Epoche auch ihr Widerspruch angelegt ist.
Offenes Fenster vs. Geometrisierung der Wahrnehmung
Hans Belting, Professor für Kunstgeschichte an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, thematisierte ebenfalls die Zentralperspektive, "das offene Fenster" der italienischen Renaissance. Er verglich sie mit dem Blick in der islamischen Welt.

Dabei ergab sich eine erstaunliche Diagnose, nämlich dass die europäische Zentralperspektive nur die Weiterbildung eines Ansatzes war, die der arabische Optiker Alhazen (965-1040) entfaltet hatte. Durch mathematische und experimentelle Lichtanalysen kam er zu einer Konzeption einer Zentralperspektive, die jedoch zu einer "Geometrisierung der Wahrnehmung" führte.

Sie war für die Abstraktion der islamischen Kunst verantwortlich, die Bilder allein in den mentalen Bereich verwiesen - im Gegensatz zum "offenen Fenster" der Renaissancekunst.
Tätigkeit am Warburg Institut in London
Der am Warburg Institut in London tätige Kunsthistoriker Francois Quiviger erwähnte Gombrichs Tätigkeit als Direktor des Warburg Instituts, die er von 1959 bis 1976 innehatte. Das Institut war eine Weiterführung der von Aby Warburg begründeten Bibliothek in Hamburg, die 1933 nach London verlegt wurde.

Der 1866 geborene Warburg zählt heute zu den wichtigsten Kunsthistorikern des Fachs, der die spannungsreiche Dialektik von ekstatischer Verausgabung und rationaler Kontrolle gleichsam als Motor sozialer, kultureller und künstlerischer Strömungen ansah.

"Manchmal komme ich mir als ein Psychohistoriker vor", so notierte er, "der die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildschaffen abzuleiten versuchte".
Leuchtturm der Rationalität
Diesem in sich zerrissenen Gelehrten widmete Gombrich "eine intellektuelle Biografie". Darin schildert er nicht nur den geistigen Werdegang Warburgs, sondern auch den "Durchbruch des Irrationalen mit all seinen schrecklichen Folgen" (Gombrich). Obwohl Gombrich von seiner intellektuellen und emotionalen Disposition wenig mit der Konzeption Warburgs anfangen konnte, verwaltete er dessen Erbe mit großer Umsicht.

Sybille-Karin Moser-Ernst bezeichnete in ihrem Resümee Gombrich als "Leuchtturm", der mehr Interesse für eine rationale Weltsicht als für ein irrationales Weltbild hatte. "Seine Arbeit galt dem Ans-Lichtbringen der Tagseite der Kunst und der Verantwortung für eine offene Gesellschaft".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, xx.4.09
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Literaturhinweise
Ernst Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Phaidon Verlag
Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Philo Verlag
Ernst Gombrich: Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen. Ein Gespräch mit Didier Eribon, Klett-Cotta Verlag
Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, C.H. Beck Verlag
Werner Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, C.H. Beck Verlag
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->   Gombrich-Tagung des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs
->   Sybille-Karin Moser-Ernst, Uni Innsbruck
->   The Gombrich Archive
->   Warburg Institut
->   Hans Belting, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe
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01.01.2010