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Sprachgeschichte der Weimarer Republik  
  Auch wenn es oft den Anschein hat: Praxis und Sprache der Nazis sind nicht vom Himmel gefallen. Die Vorläufer des NS-Vokabulars in der Weimarer Republik untersuchen nun deutsche Linguisten.  
Begriffe wie Abrüstung, Inflation oder Parlamentarismus sind auch heute noch weit verbreitet, Bonzokratie oder Preußenschlag hingegen weniger.

Im Deutschland der Weimarer Republik, der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1933, gehörten diese Schlagwörter zur täglichen Munition der politischen Parteien und Gruppierungen im Kampf um die Köpfe.

Ermittelt haben das vorläufige Weimarer Stichwort-Vokabular die beiden Linguisten Georg Stötzel und Thorsten Eitz (Heine-Universität Düsseldorf), die in den nächsten Jahren mit einem Wissenschaftler-Team die erste umfassende Sprachgeschichte der meist gar nicht so "Goldenen Zwanziger Jahre" schreiben wollen.
Bisher wenig untersucht
Erstaunlicherweise sei bisher diese bedeutende Epoche mit ihren vielen und teils bis heute wirksamen politischen, sozialen und kulturellen Neuerungen noch nicht gründlich und höchstens unter Einzelaspekten sprachwissenschaftlich untersucht worden, schildern die Düsseldorfer Linguisten: "Offensichtlich ist die Weimarer Republik linguistisch in Vergessenheit geraten; wir wollen jetzt eine gesellschaftliche Selbstaufklärung betreiben."

Bisherige Untersuchungen seien durch zu geringes Material zu falschen Schlüssen gekommen, hätten die Sprache der Weimarer Epoche oft nur auf die Vorstufe des Nazi-Deutsch reduziert.
Vierzehn Zeitungen werden untersucht
Auf drei Jahre ist das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Projekt angelegt. Analysiert werden derzeit vier Wochen- und zehn Tageszeitungen der gesamten Parteienlandschaft von der links-pazifistischen "Weltbühne" über die bürgerlich-liberale "Frankfurter Zeitung" bis zum "Völkischen Beobachter" der Nazis.

Ebenso kommen Wahlplakate, Regierungsakten, stenografische Berichte des Reichstags, Wörterbücher, Lexika und politische Handbücher unter die Lupe der Düsseldorfer Wissenschaftler.
"Nazi-Deutsch" gab es bereits ...
Bereits nach wenigen Wochen der Vorbereitung und Analysen von bisher in 20 Aktenordnern gesammelten Zeitungsartikeln und Redetexten "können wir erste überraschende Ergebnisse vorweisen", beschreibt Eitz.

So sei "die lange geäußerte These, dass die NS-Sprache den Deutschen übergestülpt worden sei, absolut falsch", wissen die Linguisten und vermuten dahinter eine willkommene Entschuldigung der 1945 besiegten Deutschen für ihre angebliche "Verführbarkeit".
... vor den Nazis
Sprachlich gebe es aber "kaum etwas originär Nationalsozialistisches": Berüchtigte Kampf-Vokabeln wie das böse "Stigma-Wort" vom "Schanddiktat" für den Versailler Frieden seien schon längst vor 1933 im Umlauf gewesen - und das quer durch das Weimarer Parteienspektrum.

Dies gelte auch für das Wort "System", mit dem die Linke häufig den Kapitalismus, Rechte wie Linke aber auch die Republik attackiert haben. Eines der wenigen wirklich genuinen Nazi-Produkte "ist das Wort "Nationalsozialismus" als Vereinigung zweier politischer Kampfwörter", erklärt Eitz.
Ähnliche Diskussionen wie heute
Gleichzeitig zeige die Sprachuntersuchung "Weimars" aber auch, wie "unfassbar modern" der krisengeschüttelte Nachkriegsstaat war. So habe es in den 20er Jahren eine Abtreibungsdebatte unter dem Slogan "Dein Bauch gehört Dir" gegeben. Im damaligen Streit um die Reformpädagogik "fehlt nur noch die Überschrift "Gesamtschule"" und auch die Erörterung der Arbeitslosen-Fürsorge zeige: "Das ist unsere Diskussion."
"Keine Experimente"
Ob die Weimarer Republik sprachgeschichtlich eine eigene Periode im modernen Deutsch darstelle, "das können wir erst am Ende sagen", beschreibt Linguist Eitz. Wie weit diese Zeit aber als "sprachliche Vorgeschichte der Bundesrepublik" auch in die Gegenwart reicht, zeigt nach Erkenntnis der Düsseldorfer Experten nicht nur die fast wörtliche Übernahme der Vereidigungsformel für Minister.

Auch das Lieblings-Schmähwort "Sowjetrussland" für die UdSSR aus dem Mund des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer sei in der Weimarer Ära geprägt worden; und das gilt ebenfalls für den bereits 1932 vom konservativen Zentrum verwendete Wahlslogan "Keine Experimente", den Adenauer im Wahlkampf 1957 wieder aufgegriffen hat.

Gerd Korinthenberg, dpa, 20.4.09
->   Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
->   science.ORF.at-Archiv zum Thema Nationalsozialismus
 
 
 
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01.01.2010