News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Über die "Lebensform Wittgenstein"
120. Geburtstag des Philosophen
 
  Am Sonntag jährt sich der Geburtstag von Ludwig Wittgenstein, dem wohl bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, zum 120. Mal. Zu diesem Anlass findet derzeit in Wien eine Veranstaltung statt, die ein philosophisches Symposion mit einer Kunstausstellung verbindet.  
Was es mit der "Lebensform Wittgenstein" auf sich hat, erklären die beiden Veranstalter, die Malerin Wanda Wessely und der Philosoph Christian Denker, in einem Interview.
Bild: Stoyan Dobrev
Stoyan Dobrev: Portrait Ludwig Wittgenstein, Tintenschreiber auf Papier, 2009
science.ORF.at: Wie ist es zu der Idee der Veranstaltung gekommen?

Christian Denker: Ganz konkret war es ein Zufall. Wanda Wessely beschäftigt sich mit Kunst, ich mich mit Philosophie. In der Vorbereitung sind wir auf den Titel "Lebensform Wittgenstein" gekommen, der sowohl Freiheit schafft für künstlerischen Ausdruck als auch anregend ist für die Philosophie.

Im Gegensatz zu früheren Ausstellungen wurden für diese die meisten Werke neu hergestellt, wie hat das funktioniert?

Wanda Wessely: Wir haben rund 15 mehr oder weniger bekannte Künstler vorwiegend aus Österreich eingeladen, Werke zu Wittgenstein herzustellen. Sie hatten dazu rund ein halbes Jahr Zeit. Ein Quantensprung folgte durch den Kontakt zu Erwin Wurm, zwei Stücke von ihm sind in der Ausstellung zu sehen. Danach folgten weitere Leihgaben, wie etwa zwei Werke von Franz West.
...
Die Veranstaltung
"Lebensform Wittgenstein": Kunstausstellung, Philosophicum und Filmvorführung anlässlich des 120. Geburtstags von Ludwig Wittgenstein:
Zeit: 22.-28. April 2009
Ort: Haus Wittgenstein, Parkgasse 18, 1030 Wien
->   Programm von Ausstellung und Philosophicum
...
Beitrag von Franz West
 
Bild: Mischa Nawrata, Wien

Franz West: Judith und Ludwig (Die Macht der Frauen) Plakatentwurf, Acrylfarbe auf Digitalprint, montiert auf Leinwand, 2007, Sammlung Essl Klosterneuburg / Wien

Was bedeutet der Begriff Lebensform bei Wittgenstein?

Christian Denker: Das ist nicht ganz einfach. Begriffliche Trennungen sind beim späten Wittgenstein nicht so eindeutig wie in seinem Frühwerk. Dazu gehört auch die Lebensform. Zur Erklärung verwende ich gerne Wittgensteins Metapher vom Flussbett: Die Sprache, die Grammatik der Sprache verändert sich demnach, wie ein Fluss sich verändert. Er läuft ganz schnell ans Ufer, das ist mehr oder weniger fest, es gibt Sand, feste Felsen, das Wasser ist in ständiger Bewegung. Und die Lebensform ist wie der Felsen etwas, das sich nur ganz wenig verändert, an dem sich aber festmacht, wie wir im Grunde leben.
Dazu passt auch die Löwen-Metapher ...

Christian Denker: Das berühmte Beispiel von Wittgenstein: "Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen." Es zeigt, dass die Lebensform des Löwen eine andere ist als die des Menschen. Dabei gibt es zwei Argumentationslinien. Die eine sagt: Der Mensch ist als sprachliches Wesen eine eigenen Lebensform, im Gegensatz etwa zu Tieren. Die andre Richtung sagt: Es gibt sehr viele verschiedene Lebensformen auch innerhalb der menschlichen Kultur, etwa von Künstlern, Gärtnern etc.; das sind verschiedene Lebensformen, die sich nur mehr oder weniger unterhalten können. Dazu kommt eine dritte, radikale Lesart des Begriffs, die sagt: Jedes Sprachspiel, das wir spielen können, ist eine bestimmte Lebensform.
So, wie wir gerade "Interview" spielen, ich als Journalist, Sie als Interviewter?

Christian Denker: Ja, aber noch viel spezieller. Was zwischen uns beiden passiert, hat auf einem individuellen Level schon mit einer bestimmten Lebensform zu tun, die wir teilen. Wenn wir uns umsetzen würden, wäre das bereits eine andere Lebensform, so die radikale These. Man kann den späten Wittgenstein also sehr unterschiedlich auffassen, und das ist auch das Schöne dran, weil es viel Offenheit zulässt.

Diese Offenheit drückt sich auch in den philosophischen Vorträgen der Veranstaltung aus mit ihrer Themenvielfalt - von Ethik bis zur Traumerzählung. Wiederkehrender Begriff ist die Kunst. Warum ist Wittgenstein so anschlussfähig für die Kunst?

Christian Denker: Wittgenstein hat Künstler immer in ihrem Schaffen angeregt. Das liegt sicher daran, dass er eine ästhetische Ausdrucksweise hat, in der sich Künstler wiederfinden können. Sätze wie "Ethik und Ästhetik sind eins" kann man stundenlang diskutieren, sie regen die Gedanken an, nicht zuletzt der Künstler.
Bild: Stepane de Medeiros, Paris
Stepane de Medeiros: Tractatus Logico Ketchapcus 6.421,
Farbdruck auf MDF, 2009
Jedenfalls mehr als Sätze von z.B. Hegel?

Christian Denker: Ja, ganz klar. Für Hegel braucht man schon einen gewissen Größenwahn als Künstler um zu sagen: Ich bin hier die Vermächtigung des Geistes. Außerdem ordnet Hegel die Kunst der Philosophie nach. Für Künstler wäre Schelling eigentlich sehr anregend.

Wanda Wessely: Benedikt Ledebur hat in seiner Eröffnungsrede der Veranstaltung gemeint, dass der Traktat deshalb einen ästhetischen Reiz hat, weil Wittgenstein seine Gedanken nicht nur radikal klar formuliert, sondern auch eine Form gewählt hat, die von sich aus fast ein Kunstwerk war: die Aussagen in Dezimalform, die strenge Gliederung etc. Dazu kommt Wittgensteins persönliche Lebensform, sein Leben war durchgestylt, bewusst gestaltet. Es ist völlig ungewöhnlich, dass jemand in Cambridge studiert und dann Volksschullehrer in Kirchberg am Wechsel wird. Ich glaube, dass der Satz "Ethik und Ästhetik sind eins" ein Programm war für sein eigenes Leben. Er wollte so leben, dass er ethisch mit sich zufrieden ist und zugleich in einer ästhetischen Form.
Disku(r)swerfer Wittgenstein
 
Bild: Heidi Harsieber

Heidi Harsieber Diskuswerfer, aus der Serie Sportfotos, 80 x 120 cm, C-Print auf Aluminium, 2008

In der Ausstellung haben mich die Sportbilder von Heidi Harsieber überrascht. Wie steht Wittgenstein zu Sport?

Wanda Wessely: Ich sehe Parallelen. Im Sport müssen sich Leute für Leistungen sehr konzentrieren, brauchen viel Disziplin und eine bestimmte Lebensform, damit sie ihre Ziele erreichen. Das gilt auch für Wittgenstein, der sehr asketisch gelebt hat. Für mich symbolisiert der Diskuswerfer einen Moment bei Wittgenstein: Auch er musste sich konzentrieren, der Traktat war ein Wurf, eine geistige Hochleistung sondergleichen.
Wurms Wittgenstein-Yoga
 
Bild: Studio Erwin Wurm, Wien

Erwin Wurm: Wittgenstein¿s space warp, 2005, Acryl und Stoff, Sammlung des Künstlers

Ein bekanntes Sujet ist der Wittgenstein von Erwin Wurm: Er nimmt dabei eine ziemlich sportliche Yogahaltung ein.

Christian Denker: Ich denke, Wurm ist es damit sehr gut gelungen, das Überspannte an der Lebensform von Wittgenstein zum Ausdruck zu bringen. Es ist bekannt, dass er sich am Ende seines Lebens nur mehr von Kohletabletten ernährt hat. Daran merkt man, wie dünn das Eis war, auf dem er durchs Leben gelaufen ist. Er hat Geist und Körper strapaziert, wie das wenige andere ausgehalten hätten.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 23.4.09
->   Lebensform Wittgenstein
->   Haus Wittgenstein
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Herbert Hrachovec: Wittgenstein privat (21.3.03)
->   Zum 50. Todestag von Ludwig Wittgenstein (29.4.2001)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010