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Der Geschmack von Wien
Buch über die Stereotypen der Bundeshauptstadt
 
  Wien die Stadt der Kultur, Wien die Musik- und Theaterstadt, Wien die Stadt des Barock und der Gemütlichkeit: Mit diesen und ähnlichen Stereotypen lebt der Wientourismus sehr gut. Im Vorjahr wurde die Schallmauer von zehn Millionen Gästenächtigungen durchbrochen.  
Reiseführer vermitteln diese Bilder erfolgreich und geben den Touristen eine Anleitung für die Stadt. Einen Cityguide der anderen Art hat nun der Kulturwissenschaftler Lutz Musner geschrieben.

"Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt" unterscheidet sich von anderen dadurch, dass nicht die Stereotypen im Mittelpunkt stehen, sondern die Rekonstruktion ihrer Herkunft. Die Geschichte der Geschichte Wiens beschreibt Musner, stellvertretender Direktor des Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften, u.a. anhand von Werbekampagnen, Architekturdiskussionen und literarischen Texten.
Habitus: Stadtgestalt und Mentalität der Bewohner
Zentraler Begriff für die Wien-Analyse von Lutz Musner ist der Habitus. Gemeint ist damit die konkrete Gestalt einer Stadt, aber auch die Mentalität und die Praxis ihrer Bewohner, die sich aus Geschichte und Kultur ergeben haben.

Heurigen- und Walzerseligkeit, die Tradition der Habsburgermetropole, Sängerknaben und Burgtheater stehen dabei auf der Habenseite. Dazu kommt eine gewisse Abneigung, sich mit negativen Aspekten der Geschichte zu beschäftigen. Stichworte: Antisemitismus und Proletarierelend.

Der Habitus einer Stadt drückt sich in spezifischen Praktiken aus, schreibt Musner. Er äußert sich in der Gliederung der kommunalen Budgets, in den Aufwendungen für Wohlfahrt, Gesundheit, Kultur und Infrastruktur.
Nein zu Hochhäusern
Ganz wichtig ist der Habitus laut Musner auch für das konkrete Stadtbild und für die Stadtplanung. Alte europäische Metropolen wie Wien, Prag oder Budapest, seien in ihrer Stadtentwicklung nicht x-beliebig programmierbar. "Sondern im Fall von Wien hat sich ein Bild der Stadt herausgebildet, das sehr stark aus einer Verschaltung von Landschaft, Landschaftseinbettung, Geschichte und Stadtkultur besteht", so Musner.

Er beschreibt in seinem Buch akribisch, wie dieses Bild die Architekturkontroversen der Gegenwart beeinflusst hat. Bei der Neugestaltung des Museumsquartiers und beim Areal an der Landstraße dominierte dabei die Frage, ob in Innenstadtnähe Hochhäuser gebaut werden dürfen.

Das kategorische "Nein", das sich immer durchgesetzt hat, wird zumeist mit freien Blickachsen argumentiert. Der freie Blick über Wien würde durch Hochhäuser behindert, so heißt es. Das historische Vorbild, das dafür immer wieder zitiert wird, stammt von einem Gemälde des italienischen Barockmalers Canaletto aus dem Jahr 1759. Canaletto ist der Namensgeber jenes Blicks, der die Architekturkontroversen bis heute prägt.
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Canaletto-Blick
Der Canaletto-Blick bezeichnet eine freie Blickfläche vom oberen Belvedere über die Innere Stadt, Stephansdom bis hin zum Wienerwald, zum Leopoldsberg. Diese Blickachse wurde in den Denkmalschutz-Diskussionen immer wieder als die natürliche Blickachse von Wien herangezogen. Lutz Musner: "Diesen Blick gibt es aber schon lange nicht mehr, weil ihn das Hotel Intercontinental verstellt. Nichtsdestoweniger ist eine Art mythologische Blickachse entstanden, mit der immer wieder argumentiert wird."
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Geschmackslandschaften unter Modernisierungsdruck
Der Traum von einem unverstellten Blick und generell von einer guten alten Zeit und einem ebensolchen Wien gehört zum Habitus der Bundeshauptstadt. Und zwar nicht erst seit der Diskussion um die Hochhäuser. Jede Art von Modernisierung ist in Wien mit kulturellen Regressionsschüben verbunden, wie es Lutz Musner nennt. Gleichgültig ob es sich um bauliche, industrielle oder soziale Modernisierungen handelt.

Das hat nicht zuletzt auch mit etwas zu tun, das Lutz Musner Geschmackslandschaften nennt.
"Wien definiert sich sehr stark über Geschmackslandschaften, d.h. historisch gewachsene Bauensemble und damit verbundene Lebenspraktiken, Alltagswelten. Und wenn die unter Modernisierungszwang kommen, gibt's immer wieder Nostalgiewellen."
Beispiel Prater
Ein Beispiel für so eine Geschmackslandschaft ist der Wiener Prater. Seit seiner Öffnung für die gesamte Stadtbevölkerung im späten 18. Jahrhundert war es das Naherholungsgebiet und grüne Lunge der k.u.k-Metropole. Der Prater war auch eine Mischzone, in der sich die höheren und niederen Stände trafen. Die Aristokratie vergnügte sich auf der Hauptallee mit Kutschen und Pferden, gleich nebenan gab es den Wurstelprater für das Volk.

Schon um 1900 - lange vor Disneyland - gab es im Prater eine Altwien-Kulissenstadt, gefolgt von einem "Venedig in Wien", wo es historische Imaginationen aus Pappmachee zu sehen gab. Breiten Bevölkerungsschichten wurde ein relativ billiges Vergnügen geboten, und diese Tradition hat sich bis heute erhalten.
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Aktuelle Diskussion
Lutz Musner: "Die aktuelle Praterdiskussion ist zynisch gesprochen der kluge Versuch, an diese alte Tradition anzuschließen, nur hat man die völlig untauglichen Mittel gewählt. Es ist nicht Wien 1900 sondern irgendeine Retrogeschichte mit einer eigenartigen Architektur, die ein bisschen was mit 1900 zu tun hat, aber eigentlich eine Fake-City ist. Deswegen auch die großen Diskussionen - abgesehen von den hohen Kosten."
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Süß im Zentrum, sauer im Abgang
Wien, so eine These von Musner, kann man nicht nur von seinem Zentrum her denken, sondern auch von seiner Peripherie, von seinen unterschiedlich gewachsenen Bezirken und Vorstädten.

Dementsprechend fällt auch seine Antwort aus, wenn man ihn fragt, wonach Wien denn nun tatsächlich schmeckt: "Im Zentrum dominieren Demel, Sachertorte und Mannerschnitten, das ganze süße Wien. Und in der Vorstadt gibt es nach wie vor das Brünnerstraßler-Wien, d.h. Heurige, diverse Vergnügungslokale für Leute mit geringem Einkommen, keine Sommelierweine, sondern sauerschmeckender Brünnerstraßler."
Umgearbeitete Habilitationsschrift
Konkrete Vergleiche wie diese sind in Musners Buch zahlreich und anregend. Wenn er die Herkunft der Gemütlichkeit und den Ruf Wiens als Weltstadt der Musik beschreibt, so macht er das detailgenau und umfassend. Beim Versuch eine Art Baedeker für Intellektuelle zu schreiben, übertreibt Musner aber ein wenig.

Mitunter muss man sich durch überlange Sätze mit kulturwissenschaftlichem Jargon kämpfen, die klare Aussagen eher verhindern als befördern. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Buch die umgearbeitete Version einer Habilitationsschrift ist.

Wenn man von diesen offenbar disziplinbedingten Stellen absieht, erhält man mit dem Buch aber eine wertvolle Anleitung für Wien. Und die ist gemäß einer bekannten Werbekampagne wie ihr Gegenstand vor allem eines: anders.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 27.4.09
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Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt, Campus Verlag, März 2009, 295 Seiten, 34,90 Euro.
->   Das Buch im Campus Verlag
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->   Lutz Musner, IFK
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Die Materialisierungen des Images "Musikstadt Wien"
->   Die Topografie der "Sportstadt Wien"
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Dem Buch "Der Geschmack von Wien" widmetet sich auch ein Beitrag in der Ö1 Sendung "Kontext" am Freitag, den 24.4.2009.
->   Mehr über die Sendung
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01.01.2010