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Dramatische Rettung von Edmund Husserls Nachlass
Zum 150. Geburtstag des Philosophen
 
  In der belgischen Universitätsstadt Löwen befindet sich ein unscheinbares, verwinkeltes Haus. Es beherbergt einen philosophischen Schatz, der entsprechend gesichert wird. Die Schriften und der umfangreiche Nachlass des Philosophen Edmund Husserl, der als Begründer der Phänomenologie zu den bedeutendsten Denkern des 20. Jahrhunderts zählt, sind in einem Panzerschrank untergebracht.  
Dass dieser Schatz nach Löwen kam, ist dem Engagement des Franziskanerpaters Herman Leo van Breda zu verdanken, der die Schriften Husserls dem Zugriff der Nationalsozialisten entzog.

Im Folgenden die Geschichte der Rettungsaktion des Nachlasses von Husserl, dessen Geburtstag sich vor kurzem zum 150. Mal gejährt hat (8.4.1859).
Demütigung durch Nationalsozialisten
Nach einem arbeitsreichen Gelehrtenleben, das der Erforschung der Bewusstseinsvorgänge gewidmet war, musste Edmund Husserl die demütigende Erfahrung machen, dass er von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft von der offiziellen Liste der Universitätsprofessoren gestrichen wurde. Dem fast 80-Jährigen wurde das Betreten der Universität Freiburg verboten.

Nach dem Tod des völlig isolierten Gelehrten am 27. April 1938 ergab sich das Problem, was mit seinen noch nicht publizierten Schriften geschehen sollte. Es war absehbar, dass sie, wenn sie in die Hände der Nationalsozialisten fallen sollten, mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit vernichtet worden wären.
Retter in der Not
Von dieser misslichen Situation erfuhr der Franziskanerpater Herman Leo van Breda. Er hatte in Löwen Husserls Werk mehrere Jahre intensiv studiert und bereitete eine Dissertation über den Phänomenologen vor. Deswegen wollte er nach Freiburg fahren, um die unveröffentlichten Schriften zu studieren.

Er kontaktierte Husserls Witwe Malvine, die sofort Vertrauen zu ihm fasste. Sie zeigte ihm den Nachlass, der rund 40.000 Seiten umfasste. Van Breda war tief ergriffen, weil ihm klar wurde, dass der Nachlass wesentliche Gedanken Husserls enthielt; er musste unbedingt gerettet werden.
Ein unkonventioneller Plan
Bild: Husserl-Archives Leuven
Edmund Husserl
Van Breda gelang es, Malvine Husserl zu überzeugen, dass Löwen der geeignete Ort sei, wo der Nachlass hingehöre. Unterstützung erfuhr Van Breda von Husserls Assistenten Ludwig Landgrebe - einer der wenigen Menschen, der die stenografierten Texte des Philosophen lesen konnte. Nach der Einigung zwischen Malvine Husserl und van Breda ging es nun darum, wie man den Nachlass nach Belgien bringen könnte.

Da kam Van Breda auf die Idee, den Nachlass mit Hilfe der belgischen diplomatischen Vertretung in Deutschland in Sicherheit zu bringen. Er war sich darüber klar, dass, selbst wenn der Plan gelänge, die Notwendigkeit bestand, den Nachlass sofort in Sicherheit zu bringen, weil mittlerweile Hausdurchsuchungen bei jüdischen Bürgern und Bürgerinnen auf der Tagesordnung standen. Ein erster Versuch, ihn in einem Kloster in Konstanz zu verwahren, scheiterte.

Es gelang dann, den Nachlass in einem Safe der belgischen Botschaft in Berlin zu deponieren. Es war dies das Ergebnis eines Gesprächs, das Van Breda mit dem Botschafter geführt hatte - mit der Absicht, ihn zu überzeugen, dass die Manuskripte als Diplomatengepäck ohne Kontrolle durch die deutschen Behörden nach Belgien gebracht werden sollten.
Gründung des Husserl-Archivs und neuerliche Bedrohung
Van Breda kehrte nach Löwen zurück. Auch dort musste er Überzeugungsarbeit leisten, weil die verantwortlichen Professoren in Löwen zögerten, ein Husserl-Archiv an der Universität einzurichten. Erst die finanzielle Unterstützung einer Stiftung ermöglichte die Gründung des Archivs.

In der Zwischenzeit waren die Manuskripte wohlbehalten in Belgien angekommen, sodass einer Bearbeitung vorerst nichts im Wege stand. Daran beteiligten sich Lucy Felber, Gertrude und Stephan Strasser, die wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Österreich emigrieren mussten.

Aber die wissenschaftliche Tätigkeit war nur von kurzer Dauer. Im Mai 1940 okkupierten deutsche Truppen Belgien. Das Versteckspiel ging wieder los, solange bis der nationalsozialistische Spuk zu Ende ging.
Das Schicksal von Malvine Husserl
Versteckt werden musste auch Malvine Husserl, die 1939 Deutschland verlassen hatte. Sie hoffte, ein Visum für die Vereinigten Staaten von Amerika zu erhalten, wo ihr Sohn lebte. Durch den Einmarsch der deutschen Truppen geriet sie wieder in Gefahr, in ein Konzentrationslager gebracht zu werden. Unter falschem Namen überlebte sie in einem Nonnenkloster.

Walter Biemel, der heute in Aachen lebende 91-jährige Philosoph, arbeitete mit seiner Ehefrau Marly Biemel ab 1945 im Husserl-Archiv und lernte in dieser Zeit Malvine Husserl kennen. Im Gespräch mit science.ORF.at beschreibt er sie als "sehr selbstbewusst, sicher im Auftreten, ihrer eigenen Bedeutung bewusst". Erst 1946 konnte sie Belgien verlassen.
Transkriptionsprobleme: "Reif für Papierkorb" ...
Die Transkription des Nachlasses war äußerst mühsam, weil ihn Husserl in der Gabelsberger Stenografie geschrieben hatte, die er sehr eigenwillig benützte. Dabei ergab sich manches Missverständnis, wie Walter Biemel berichtet:

"Er ging immer sehr kritisch mit seinen Manuskripten um und war im Zweifel, welche er denn publizieren sollte. Dann fanden wir ein Manuskript, wo stand 'reif für'. Da waren wir glücklich, dass wir endlich ein Manuskript entdeckt hatten, das er für gut befand. Aber danach stand ein Wort, das wir nicht entziffern konnten, bis wir herausfanden, dass es hieß: 'reif für den Papierkorb'."
... und der "Raum ohne Loch"
"In den Ideen II gab es einen Text, den Edith Stein transkribierte. Husserl las ihn noch einmal durch und gab ihn Ludwig Landgrebe zum Durchlesen und zum Abschreiben. In Löwen erhielt ihn dann meine Frau und staunte über die Stelle: "Der Raum kann sich nicht zusammenziehen, der Raum kann sich nicht ausdehnen, der Raum kann nur ein Loch bekommen".

Da sagte meine Frau, die viel über Aristoteles gearbeitet hatte, sie verstehe das Loch im Raum nicht; es wurde dann klar, dass dort stand: Nie ein Loch bekommen".
"Eine Politik der offenen Tür"
Das Husserl-Archiv war dann ein Ort, wo sich zahlreiche Philosophen in die Schriften von Husserl vertieften. Sie fühlten sich von van Bredas "bedingungsloser Politik der offenen Tür" angezogen. Die Besucherliste klingt wie ein "Who is who" der Philosophie im 20. Jahrhundert.

Der erste Besucher war der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, der das Archiv bereits 1939 heimsucht. Es folgte Paul Ricoeur, der die Texte Husserls sehr sorgfältig gelesen hatte. Andere Gäste waren Jacques Derrida, der sich 1954 zwei Wochen in Löwen aufhielt und Emmanuel Levinas.

Die Atmosphäre war von Offenheit und vom Gefühl der Freundschaft geprägt, wie Walter Biemel betont: "Es war keine oberflächliche Freundschaft, sondern eine Freundschaft im Sinne des Geöffnetseins für den Nächsten, des auf ihn Hörens, auf ihn Eingehens, das ihn nicht gleich in vorgefasste Kategorien einordnete."

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 29.5.09
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Literaturhinweis
Geschichte des Husserl-Archivs, Springer Verlag
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->   Husserl-Archiv Löwen
->   Husserl-Biografie (Uni Freiburg)
->   Husserl (Wikipedia)
Mehr zu dem Thema:
->   Husserl: Eine Philosophie der Verantwortung (oe1.ORF.at)
->   100. Geburtstag Maurice Merleau-Ponty
 
 
 
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01.01.2010