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Mythen über Migration  
  Was die Wissenschaft an Stereotypen und Klischees über Zuwanderer längst widerlegt hat, spukt immer noch in unseren Köpfen herum. Eine Auswahl.  
Migration besteht aus Aus- bzw. Einwanderung, ist also eine einmalige Bewegung in eine Richtung.

Die meisten Migranten pendeln zwischen Ziel- und Herkunftsgebiet, oft mehrmals oder regelmäßig. Hohe Zuwanderungsraten sind in der Regel von hohen Abwanderungsraten (meist früher Zugewanderter) begleitet. Selbst die Auswanderung in die USA war bei vielen nicht dauerhaft. Im späten 19. Jahrhundert lagen die Rückwanderungsraten für West-, Mittel- und Nordeuropa im Durchschnitt bei 20 Prozent. Italiener kehrten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu 60 Prozent wieder aus den USA zurück, Bulgaren sogar zu 90 Prozent.

Eine restriktive Migrationspolitik bremst Zuwanderung.

Dazu gibt es zahlreiche Gegenbeispiele. Neue Gesetze und höhere Zäune bremsen vor allem die zirkuläre Migration, also die Ab- und Rückwanderung von Zuwanderern, da sie sich nicht sicher sein können, wieder in ihr Zielland gelassen zu werden. Am spektakulärsten scheiterte US-Präsident Bill Clinton mit der "Sicherung" der Grenze zu Mexiko. Milliarden Dollar flossen in doppelte Stahlzäune und Suchscheinwerfer, die mexikanischen Migranten wichen in bislang weniger frequentierte Grenzgebiete aus. Denn die Nachfrage der kalifornischen Landwirtschaft nach billigen Arbeitskräften blieb hoch.

Der "Erfolg" von Clintons "Operation Gatekeeper": Die Zahl der Menschen, die beim Grenzübertritt ums Leben kamen, stieg von 23 im Jahr 1994 auf 499 im Jahr 2000, der Durchschnittspreis der Menschenschlepper im selben Zeitraum von 143 auf 1.500 Dollar. Wer einmal so viel investiert hat, der geht so schnell nicht mehr zurück.
Migranten sind Menschen, denen keine andere Wahl bleibt. Sie werden von Hunger und Elend getrieben.

Sieht man von politischen Verfolgungen und Vertreibungen ab, gehörten und gehören Migranten überwiegend nicht den ärmsten und den reichsten, sondern den mittleren sozialen Schichten an, die aufsteigen möchten. Dies ist für die europäische Migrationsgeschichte statistisch eindeutig nachweisbar.

Ähnliche Belege gibt es für die derzeitige Migration von Mexiko in die USA. Und auch wenn die aktuellen Bilder afrikanischer Flüchtlinge an den Küsten Italiens und Spaniens zutiefst verzweifelte Menschen zeigen: Nur wer die teuren Schlepper bezahlen kann, kommt überhaupt vom Inneren des Kontinents bis an die EU-Außengrenze.

Menschen sind heutzutage mobiler.

Das ist Globalisierungsgerede. Laut UN sind nur drei Prozent der Weltbevölkerung Migranten, d.h. Menschen, die schon mehr als ein Jahr außerhalb ihres Geburtslandes leben. In Europa lagen die Migrationsraten nach dem Ersten Weltkrieg wesentlich niedriger als im 19. Jahrhundert. In Deutschland etwa wechselten zwischen 1880 und 1914 prozentual etwa viermal mehr Menschen den Wohnort als zwischen 1950 und 1988. Die Menschen sind sesshafter geworden. An die Stelle der Migration sind allerdings neue Formen der Mobilität (z.B. tägliches Pendeln über große Entfernungen) getreten.
Emigration schadet den Herkunftsländern.

Zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht trifft das Gegenteil zu. Geldüberweisungen von Emigranten, die in reicheren Ländern arbeiten, an ihre Verwandten in Entwicklungsländern beliefen sich 2008 laut Schätzungen der Weltbank auf 230 Milliarden Euro (wobei davon auszugehen ist, dass noch einmal um die Hälfte mehr auf informellen Kanälen dazukommt). Das ist mehr als zweieinhalbmal so viel wie die im selben Jahr geleistete Entwicklungshilfe von gut 90 Milliarden Euro.

In 45 Ländern machen die registrierten Überweisungen mehr als zehn Prozent des Volkseinkommens aus, in Tadschikistan und Moldawien sogar annähernd die Hälfte. Auch Direktinvestitionen werden in vielen Entwicklungsländern vor allem von Emigranten getätigt.

Migration kann politisch gesteuert werden.

So mancher Politiker glaubt immer noch, Migrationsströme ließen sich wie ein Wasserhahn auf- und zudrehen. Und zwar durch eine Regulierung der sogenannten Pull- und Pushfaktoren, also wie stark die Anziehungskräfte des Ziellandes und die Abstoßungskräfte des Heimatlandes sind.

Diese bürokratische Rationalität übersieht freilich, dass die Migration von ganz anderen Dynamiken bestimmt wird: etwa den Netzwerken zwischen den Ländern. So wurde zwar in der Folge des Ölpreisschocks von 1973 durch verschiedene Einschränkungen der Anteil von Ausländern am österreichischen Arbeitsmarkt zwischenzeitlich reduziert. Durch den Familiennachzug ist der Gesamtanteil an Ausländern aber weiter gestiegen.
Österreich ist kein Einwanderungsland.

Politik und Volksseele wollten es lange nicht wahrhaben: Unterschiedlichste Formen der Migration prägen Österreich seit langem nachhaltig, nicht zuletzt aufgrund der zentralen Lage mitten in Europa. Zwischen 1815 und 1914 stieg die Bevölkerung Wiens von 250.000 auf über zwei Millionen. Das Wiener Telefonbuch dokumentiert die tschechische Einwanderung noch zu k.u.k. Zeiten.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielten sich 1,6 Millionen ausländische Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und ehemalige KZ-Insassen in Österreich auf. Spätestens seit den 1960er-Jahren ist die Zweite Republik zum Einwanderungsland geworden.

Migranten nehmen "echten" Österreichern die Arbeit weg.

Billige Hetze. Der Arbeitsmarkt ist kein Nullsummenspiel. Migranten tragen nämlich auch zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei, indem sie etwa neue Beschäftigungsfelder erschließen. Volkswirtschaftlich gesprochen stellen sie "komplementäre Faktoren" im Produktionsprozess dar. Knapp ein Drittel der Unternehmer in Wien sind Migranten (in Zahlen: 16.000). Und wie die Diskussion um die Pflege gezeigt hat, sähe es in vielen Bereichen schwarz aus, da Einheimische längst nicht mehr bereit sind, vermeintlich "niederen" Tätigkeiten nachzugehen.
Die meisten Migranten in Österreich stammen aus der Türkei.

Verfolgt man die öffentliche Diskussion zu Migration und Integration, hat man mitunter den Eindruck, die Türken ständen wieder einmal vor Wien. Es wird hauptsächlich über Kopftuch, islamischen Religionsunterricht und vermeintlich inkompatible Kulturen debattiert.

Dabei stammt die größte Gruppe der hier lebenden Migranten aus Serbien und Montenegro, die zweitgrößte aus Deutschland (auch weil diese sich nur selten einbürgern lassen). Erst auf Platz drei folgen die Türken. Betrachtet man allein die Zahl der neuen Zuwanderer, so belegen die Deutschen seit 2006 Rang eins. 2007 etwa wanderten 17.920 Deutsche ein, dagegen aber nur 5.262 Türken.

Bestimmte Gruppen sind aufgrund ihrer anderen Sprache, Religion und Kultur nicht integrierbar.

Gegenbeispiele gefällig? In den Hochphasen der deutschen Einwanderung in die USA Mitte des 19. Jahrhunderts galten die Teutonen als schlichtweg unintegrierbar. Sie hielten an der eigenen Sprache fest, seien nicht bereit, Englisch zu lernen, holten Ehepartner aus Deutschland und bedrohten als Anarchisten und Terroristen die innere Sicherheit.

Erst als Ende des 19. Jahrhunderts weniger Deutsche, dafür vermehrt Südeuropäer in die USA kamen, die noch viel fremder erschienen, mauserten sich die Deutschen zu Integrationsmusterknaben. Ähnlich ging es den Iren lange Zeit in Großbritannien: Sie würden nur auf den Papst hören, ständig bechern und sich nicht an das liberale Wertesystem anpassen. Als Richtwert für die Dauer einer gelungenen Assimilation gelten drei Generationen.

Oliver Hochadel, heureka!, 5.5.09
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Die Langfassung dieses Texts ist in der neuen Ausgabe von "heureka!" - der Wissenschaftsbeilage des "Falter" - nachzulesen. Titel des aktuellen Heftes: "Wissenschaft unterwegs".
Für diesen Artikel wurden folgende (Migrations-) Forscher befragt: Karin Mayr (Universität Linz), Ilker Atac, Joseph Ehmer, Georg Spitaler, Sigrid Wadauer (alle Universität Wien), Elisabeth Röhrlich (Demokratiezentrum Wien), Jochen Oltmer (Universität Osnabrück).
->   heureka!
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->   science.ORF.at-Archiv zum Thema Migration
 
 
 
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01.01.2010