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Österreichs beschwerlicher Weg zur Zivilehe
Die Rolle von Hans Kelsen
 
  Das österreichische Eherecht brauchte lange, um sich von der Religion zu lösen. Selbst Hans Kelsen, Vater der Verfassungsgerichtsbarkeit, scheiterte daran, den Katholizismus aus dem Gesetz zu verdrängen.  
Bild: Hans-Kelsen-Institut
Hans Kelsen
Vor kurzem beleuchtete eine internationale Tagung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und des Hans Kelsen-Instituts Leben, Werk und Wirksamkeit von Hans Kelsen. Der wohl bedeutendste Jurist Österreichs war Mitgestalter der Bundesverfassung und begründete mit der Reinen Rechtslehre eine von politischen und naturrechtlichen Elementen freie Rechtstheorie.

1921 wurde Kelsen als neutraler Verfassungsrichter auf Lebenszeit gewählt. Der Grund, warum er bereits 1930 aus dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) ausscheiden musste, lag nicht zu einem geringen Teil im letzten Kapitel der langen Geschichte des Eherechts.
Vom Ehepatent Josephs II ...
Der Streit zwischen österreichischem Staat und katholischer Kirche über die Kompetenz zur Regelung des Eherechts dauerte bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts. Kaiser Joseph II regelte mit dem Ehepatent vom 16. Jänner 1783 das gesamte Eherecht und überwies die Ehestreitigkeiten der Gerichtsbarkeit des Staates.

Erstmals wurde ein staatliches Eherecht geschaffen, wobei sich dieses Gesetz sehr stark an die religiösen Vorstellungen vom Wesen der Ehe anlehnte. Die Zivilehe war damit noch lange nicht geschaffen.
... zur Dispensehe in der Ersten Republik
Nach dem Ende der österreichischen Monarchie blieb das Eherecht immer noch religiösen Vorstellungen verhaftet. So konnten Katholiken zwar ihre Lebensgemeinschaft auflösen, jedoch nicht das Eheband an sich aufheben lassen. Neuerlich zu heiraten, war somit nicht möglich.

Als sich 1918 die Christlichsozialen immer noch gegen eine Einführung der obligatorischen Zivilehe sträubten, kam es zu der Massenerscheinung der so genannten Dispensehe.

Eine Lücke im Gesetz ermöglichte es der Verwaltungsbehörde, Katholiken aus wichtigen Gründen eine neuerliche Heirat zu ermöglichen. Der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich, Albert Sever, tat sich bei der Erteilung von Dispensen besonders hervor. In den konservativ regierten Ländern gab es nur einzelne Dispense.
Kelsen und das Rechtswirrwarr
Auf der ÖAW-Tagung erläuterte Christian Neschwara (Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte) in seinem Vortrag "Die Dispensehenproblematik" die große Bedeutung der Streitfrage für Hans Kelsen: Ihm sei dadurch eine weitere Wirksamkeit in Österreich verleidet worden, und er habe daher die erste Gelegenheit genutzt, Österreich zu verlassen.

Die Gültigkeit der Dispense geriet nämlich sehr bald in den Fokus der Juristerei: Unklar war, wie die privatrechtlichen Ansprüche, etwa auf Unterhalt, des schuldlos getrennten Ehepartners zu regeln waren. Außerdem blieb es zweifelhaft, ob die Erteilung des Dispenses an sich rechtmäßig war. Ein Gutachten des Obersten Gerichtshofs von 1921 stellte schließlich fest, dass die Dispensehen ungültig seien. Zu diesem Zeitpunkt bestanden bereits mehr als 12.000 solcher Ehen.

Mit der Entscheidung des OGH konnte nun jede beliebige Person ein Ungültigkeitsverfahren bei einem Zivilgericht beantragen.
Oberstes Gericht vs. Verfassungsgericht
Das darauf folgende "Rechtswirrwarr", wie Ulrike Harmat es in ihrer Dissertation "Ehe auf Widerruf" nennt, dauerte bis 1926. In diesem Jahr gelangte ein Antrag an den Verfassungsgerichtshof mit der Frage, ob Gerichte überhaupt die Gültigkeit von verwaltungsbehördlich erteilten Dispensen aufheben könnten, denn eigentlich sei die Aufhebung von Verwaltungsakten nur auf dem verwaltungsbehördlichen Weg möglich.

Hans Kelsen war am Verfassungsgerichtshof der einzige der neun Richter, welcher dem Antrag zustimmte. Für Kelsen bestand hier ein Kompetenzkonflikt. Der Antrag wurde jedoch zurückgewiesen mit der Begründung, dass der Verfassungsgerichtshof unzuständig sei.

Im folgenden Jahr gab es einen neuerlichen Antrag, und Kelsen konnte die anderen Stimmführer überzeugen, dass Gerichte nicht zuständig seien über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes zu entscheiden, und dass die zu Unrecht aufgehobenen Verwaltungsakte wiederherzustellen seien.
Weiterhin keine Eherechts-Reform
Inzwischen gab es 50.000 Dispensehen, von denen 1.000 für ungültig erklärt worden waren. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs löste ein dementsprechendes mediales und politisches Echo aus. Die Befürworter sahen endlich eine Wende im Dispensehen-Chaos, die Kritiker, etwa die Christlichsozialen polemisierten, dass Kelsen die Bigamie fördere.

Eine generelle Wirkung entfaltete die VfGH-Entscheidung nicht, dafür ermöglichte sie die Sicherheit, dass im Einzelfall eine ungültig erklärte Dispensehe vom Verfassungsgerichtshof wieder aufgehoben werden konnte. Jedoch blieb der Oberste Gerichtshof bei seiner Ansicht von 1921, dass die Dispensehen ungültig seien.

Dies führte zum Problem, dass der Oberste Gerichtshof theoretisch eine dementsprechende Einzelfall-Entscheidung hätte treffen können, die aber nicht durch Verfassungsgerichtshof hätte überprüft werden können.

Eine endgültige Lösung der Problematik wäre nur durch eine Eherechts-Reform möglich gewesen, wogegen sich die Christlichsozialen weiterhin wehrten. Die Dispensehen und die damit eigentlich entstehenden, gar nicht katholischen Doppelehen waren für die Christlichsozialen der Preis, damit sich die Sozialdemokraten und die Großdeutschen nicht gegen sie zu einer Einführung der obligatorischen Zivilehe verbündeten.
Entpolitisierung des VfGH
Hans Kelsen hielt an seiner Rechtsansicht fest, die er auch in seiner Position als Rechtswissenschafter durch theoretische Schriften forcierte. In der Rechtspraxis wurden weiterhin Dispense von Zivilgerichten aufgehoben, nur damit der Verfassungsgerichtshof diese Ungültigkeitserklärungen wiederum aufhob.

Dieser Umstand und andere für sie unbequeme Entscheidungen des VfGH veranlassten die Christlichsozialen zu fordern, dass der VfGH entpolitisiert werden müsse; hier läge parteipolitische Beeinflussung vor.

Die daraus entstandene Verfassungsreform begründete die Bestimmungen über Ernennung des VfGH und politische Unvereinbarkeiten, wie sie bis heute bestehen.
300.000 Menschen betroffen
Der Verfassungsgerichtshof wurde 1930 neu besetzt, Kelsen wegen seinem vermeintlichen Naheverhältnis zu den Sozialdemokraten nicht neu nominiert. Nach der Neubesetzung ging das Spiel mit den Dispensehen weiter wie bisher. Nur der VfGH wies Anträge wegen Kompetenzkonflikten ohne Ausnahme ab.

Erst der Anschluss an das Dritte Reich brachte eine Vereinheitlichung des Eherechts und eine Umwandlung von Dispensehen in gültige Ehen. Bis dahin waren, unter Einbeziehung von Angehörigen der Ehepartner, etwa 300.000 Menschen von der Dispensehen-Problematik betroffen.

Markus Grundtner, science.ORF.at, 11.5.09
->   Hans Kelsen-Institut
->   Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs
->   Christian Neschwara
->   Google Books: "Ehe auf Widerruf"
->   Google Books: "Kelsen als Verfassungsrichter - Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse"
 
 
 
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01.01.2010