News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Alles steckt im Detail: Gott, die Liebe und der Teufel
Freud-Vorlesung des Kunsthistorikers Carlo Ginzburg
 
  Der Italiener Carlo Ginzburg ist einer der berühmtesten Historiker und Kulturwissenschaftler der Gegenwart. In der von ihm bevorzugten "Mikrogeschichte" stehen historische Details im Mittelpunkt, die minuziös recherchiert und dann in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.  
Auf diese Weise hat Ginzburg u.a. die Geschichte der "Hexen" im Europa des 15. und 16 Jahrhunderts neu geschrieben und für die Existenz eines europäischen Schamanismus argumentiert.

In seiner Methode und seiner Liebe für Details ist der Historiker Sigmund Freud nicht unähnlich. Am Mittwochabend hat Ginzburg die traditionelle Freud-Vorlesung in Wien gehalten, die alljährlich von der Sigmund Freud Privatstiftung zum Geburtstag Freuds veranstaltet wird.

Vorab hat der 1939 in Turin geborene Ginzburg in einem Interview seine Beziehung zum Schöpfer der Psychoanalyse beschrieben.
Bild: UCLA
Carlo Ginzburg
science.ORF.at: Wann haben Sie Freud entdeckt und wie hat er Sie beeinflusst?

Ginzburg: Ich war vermutlich 18 Jahre alt, als ich Freuds "Psychopathologie des Alltaglebens" gelesen habe, danach folgten die "Traumdeutung" und andere Schriften, aber die "Psychopathologie" war mir wichtiger. Mir gefiel Freuds Art, sich seinem Material zu nähern.

Generell ist mein Verhältnis zur Psychoanalyse distanziert, obwohl meine Schwester Analytikerin ist. Ich habe auch nie eine Analyse als Patient gemacht. Freuds Oeuvre betrachte ich als Herausforderung. Erstmals explizit bezogen habe ich mich in dem Aufsatz "Spurensicherung", wo ich Freud in den bizarren Zusammenhang mit Giovanni Morelli und Sherlock Holmes gestellt habe.
...
Freud wie Giovanni Morelli und Sherlock Holmes
In "Spurensicherung" legt Ginzburg einige Spuren seines Denkens frei. U.a. zitiert er Freuds Vorliebe für eine Moses-Skulptur Michelangelos in Rom, der Freud eine Abhandlung gewidmet hat. Darin berichtete er von dem italienischen Kunsthistoriker Giovanni Morelli, der in den 1870er Jahren eine neue Methode zur Identifizierung der Autorenschaft von Gemälden propagiert hatte: Nicht der Gesamteindruck des Werks und auch nicht seine hervorstechenden Eigenschaften dienen am besten der Zuordenbarkeit, sondern der Vergleich von vermeintlich vernachlässigbaren Details - etwa von Ohren oder Fingern.

"Ich glaube Morellis Verfahren ist mit der Technik der Psychoanalyse nahe verwandt. Auch diese ist gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten", schrieb Freud. Ähnlich verwandt sah Freud an anderer Stelle auch seine Tätigkeit mit jener von Sherlock Holmes: Auch die Detektivfigur von Arthur Doyle schließe aus oberflächlichen Indizien oder Symptomen auf tieferliegende Wahrheiten.
->   Die Morelli-Methode (HU Berlin)
...
Fühlen Sie sich selbst wohl in dieser Reihe mit Freud, Morelli und Doyle?

(lacht) "Spurensicherung" war ein Aufsatz mit vielen Schichten. Er beinhaltete historische Spekulationen, theoretische Überlegungen und eine Selbstreflexion meiner Arbeit, er war auch eine verborgene Autobiographie. In diesem Sinne ist die Antwort auf Ihre Frage: Ja.

Inwiefern? Worin liegen die Ähnlichkeiten zwischen den drei Autoren und ihrer Arbeit, Ihrem Ansatz zu historischer Wissenschaft?

Ich würde sagen, ich bin niemals von einem allgemeinen Begriff oder einem generellen Entwurf ausgegangen, nicht einmal von einer allgemeinen Fragestellung, sondern von einzelnen Stücken, Fragmenten von Beweisen und Indizien.

Audio: Ginzburg über seine "Spurensicherung"
So wie das auch Freud getan hat?

Zum Teil. Bei Freud gibt es eine Spannung zwischen seinen großen theoretischen Ambitionen und seinem Fokus auf Details. Mir liegt letzteres viel näher, weshalb mich seine systematischen Versuche auch viel weniger interessieren als seine Fallstudien. Ähnlich wie Freud nähere auch ich mich den Details.

Ein weiteres bleibendes Erbe von Freud: Er hat sich irrationalen Phänomenen - Fehlleistungen im Alltag, Träumen, Ängsten etc. - von einem rationalen Standpunkt aus angenähert. Freud hat sich dem Irrationalismus nie ergeben.

Es sind also mehr die Methoden, die Sie an Freud schätzen, als seine Begriffe, wie z.B. das Unbewusste?

Auch wenn ich sein Werk bewundere, bin ich definitiv kein Freudgläubiger. Ich verwende seine Begriffe nur sehr vorsichtig. Nochmal: Es ist v.a. seine Herangehensweise an Fragmente, die mich interessiert. Im gleichen Alter wie Freud habe ich auch Erich Auerbachs Buch "Mimesis" erstmals gelesen. Der deutsche Philologe hat eine Art Rekapitulation der europäischen Literaturgeschichte von Homer bis Virginia Woolf geschrieben.

Jedes Kapitel beginnt mit einem Fragment großer Werke, ehe die Epochen analysiert werden. Auerbach hat Freud niemals erwähnt, ist meiner Ansicht nach aber stark von ihm geprägt. Freuds Einfluss ist überall zu finden ist, in manchen Fällen ist er offener, in anderen subtiler.
Sie haben der "Spurensicherung" das Zitat des Kunsthistorikers Aby Warburg vorangestellt: "Der liebe Gott steckt im Detail". Im Deutschen gibt es das Sprichwort mit dem Teufel. Wer steckt nun im Detail?

Beides. Teufel oder Gott, beides bedeutet: das Wichtigste. Man braucht dazu im Alltag nur etwa an Verträge zu denken. Aby Warburg hat das Motto für seinen Ansatz verwendet. Es gibt eine Diskussion unter Historikern, ob Warburg mit Freuds Ansatz vergleichbar ist.

Der große Wiener Kunsthistoriker Ernst Gombrich hat das bestritten und Warburg eher mit C.G. Jung in Verbindung gebracht, der Franzose George Didi- Huberman hingegen eine starke Beziehung zwischen Warburg und Freud gesehen. Beides hat mich nicht überzeugt. Aber: Natürlich gibt es eine allgemeinen intellektuellen Zusammenhang, wenn schon keine Beeinflussung, dann doch Verbindungen.
Der Psychoanalyse wurde und wird stets vorgeworfen, dass es sich dabei um keine Wissenschaft handle. Wenn wir das mit der Geschichtswissenschaft vergleichen, so wie Sie sie betreiben und verstehen, gibt es nicht auch hier das Problem aus allen Details wieder ein Gesamtbild zu machen?

Das ist natürlich eine entscheidende Frage. Nun könnte man sagen: Die Antwort hängt davon ab, was man unter Wissenschaft versteht. In welcher Weise können Humanwissenschaften beanspruchen, Wissenschaften zu sein? Meiner Ansicht nach wäre es ein Fehler, wenn sie versuchen würden, Physik oder andere "harte Wissenschaften" zu imitieren.

Was Freud betrifft würde ich sagen: Sein System wissenschaftlich zu nennen ist schwierig, auch die Praxis und Heilungsmöglichkeit in der Psychoanalyse sind keine Beweise für Wissenschaftlichkeit, denn auch katholische Geständnisse oder Schamanismus können heilen.Wir sollten uns Freud nicht als Schöpfer eines Systems zuwenden, sondern wir sollten den anderen Freud genauer untersuchen, jenen Freud, der auch für Historiker interessant ist.

Wobei für mich das Problem darin besteht, dass seine Kategorien nicht für verschiedene Gesellschaften gültig sind. Ich verwende seine Kategorien als Fragen und versuche darauf Antworten zu liefern.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 7.5.09
Audio: Ginzburg über "Wissenschaft Psychoanalyse"
->   Carlo Ginzburg (Wikipedia)
->   Carlo Ginzburg, UCLA
->   Sigmund-Freud-Museum
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010