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Krieger kriegen weniger Kinder  
  Die Waorani gelten als der grausamste indigene Stamm, nirgendwo sonst treten Blutrache und Überfälle so häufig auf wie bei dem Volk in Ecuador. Eine Studie zeigt nun: Besonders aggressive Waorani sind in Sachen Fortpflanzung jedoch weniger erfolgreich.  
Mord und Totschlag
54 Prozent aller Männer und 39 Prozent aller Frauen sterben bei den Waorani eines gewaltsamen Todes. Bzw. starben: Denn seit einigen Jahrzehnten ist mehr oder weniger Friede eingekehrt in der östlich der Anden gelegenen Region zwischen den beiden Flüssen Napo und Curaray. Aber früher, bevor noch Missionare das Territorium der Waorani betreten hatten, waren Massaker an der Tagesordnung, bestand der Alltag des südamerikanischen Stammes aus willkürlichen Gewaltakten an Fremden wie an verwandten Sippen.

"Die Waorani kannten keinen Tod durch Zufälle oder Krankheit", erklärt der Anthropologe Stephen Beckerman von der Pennsylvania State University. "Wenn einer von ihnen beispielsweise durch einen herabfallenden Ast getötet wurde, dann war das Hexerei. Jemand war dafür verantwortlich. Dieser jemand musste getötet werden - ebenso wie seine Frau, seine Kinder, seine Eltern und Geschwister." Überfälle fanden vorwiegend in der Nacht statt, als Mordgeräte dienten meist Speere und andere Stoßwaffen.
Krieger im Nachteil
Stephen Beckerman hat nun mit sieben weiteren Kollegen im Fachblatt "PNAS" (online) eine bio-kulturelle Bestandsaufnahme von Waorani-Biografien vorgestellt, die auf 121 Interviews mit alten Stammesmitgliedern basiert. Daraus rekonstruierten die US-Anthropologen die Lebensgeschichte von 95 zum Teil schon verstorbenen Kriegern, deren familiäre Verhältnisse, und vor allem: deren Teilnahme an kriegerischen Auseinandersetzungen.

Letztes zeigt, dass superaggressives Verhalten in dieser grundsätzlich aggressiven Gesellschaft keineswegs ein (evolutionärer) Vorteil ist. Krieger mit besonders vielen Auseinandersetzungen hatten der Studie zufolge nicht mehr Kinder oder Frauen als andere. Im Gegenteil: Ihre Nachkommen erreichten seltener das fortpflanzungsfähige Alter, was in Summe einen reproduktiven Nachteil ergibt.
Kultureller Kontext
Bild: James Yost, Latigo Ranch, Kremmling, CO.
Ein Wao mit Blasrohr
Das überrascht angesichts der Ergebnisse früherer Untersuchungen. Eine Studie an einem anderen kriegerischen Stamm in Amazonien, den Yanomamö, hat etwa ergeben, dass besonders aggressive und grausame Männer einen höheren Status besitzen - und in weiterer Folge auch mehr Frauen und Kinder haben (Science, Bd. 239, S. 985).

"Wir dachten, dass dieser Zusammenhang auch auf die Waorani zutreffen müsse", sagt Beckerman. "Aber das Gegenteil war der Fall. Das zeigt, wie wichtig der kulturelle Kontext ist." Offenbar muss man sich zur Erklärung dieser Unterschiede von den üblichen Deutungsmustern verabschieden. Bisher wurde der Zusammenhang Aggression/Fortpflanzungserfolg über genetische Faktoren und Selektion erklärt, aber das Beispiel der Waorani, den Weltmeistern der Blutrache, zeigt: Dieses Verhalten kann auch dann entstehen, wenn es biologisch betrachtet von Nachteil ist.

Beckerman und seine Kollegen vermuten nun, dass sich die Unterschiede aus kulturell bedingten Rhythmen ergeben. Die Yanomamö etwa gönnen sich zwischen Kriegen Perioden der Ruhe. Friedliche Phasen dauern üblicherweise eine Generation an, in dieser Zeit haben erfolgreiche Krieger Zeit, zu heiraten und Familien zu gründen. Bei den Waorani indes gab es solche Pausen nicht.
"Ein kollektives Aufatmen"
Alle Forscher sind von diesem Ansatz allerdings nicht überzeugt. Der US-Primatologe Richard Wrangham kritisiert etwa gegenüber "Nature" (online), dass man auch Geschwister, Nichten und Neffen hätte berücksichtigen müssen, weil der genetische Fortpflanzungserfolg mitunter auch an der Verwandtschaft abzulesen sei. Und sein Landsmann, der Anthropologe Robert Brorofsky misstraut den Erinnerungen der 121 Interviewpartner. "Aus Erzählungen gewonnene Daten müssen nicht immer stimmen."

Doch selbst wenn eine evolutionäre Erklärung für derartige aggressive Exzesse reinstalliert werden könnte, am genetischen Gängelband baumeln auch die Waorani nicht, wie ihre Geschichte zeigt. "Sie waren auf dem Weg, sich gegenseitig auszurotten, als die ersten Missionare ihre Gebiet betraten", sagt Beckerman. "Als sie ihnen sagten, Gott wolle, dass das Töten aufhört, ging ein kollektives Aufatmen durch den Stamm."

Robert Czepel, science.ORF.at, 12.5.09
->   Stephen Beckerman
->   Waorani Indians - Last Refuge Ltd.
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01.01.2010