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Drogen besser für Schüler als für Kampfpiloten
Literaturexperte über Gottfried Benn
 
  Gottfried Benn war nicht nur einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne Deutschlands, in seinem Brotberuf war er auch Arzt. Nicht zuletzt deshalb hatte er Zugang zu chemischen Substanzen. Drogen übten eine große Anziehung auf ihn aus. Mit ihrer Hilfe sollte die Rationalität des Alltags durchbrochen und die Produktion dichterischer Bilder ermöglicht werden.  
Wie der Literatur- und Medienwissenschaftler Marcus Hahn von der Universität Siegen in einem Interview erklärt, hatte Benn auch praktische Vorschläge parat.

Im Zweiten Weltkrieg empfahl er, Drogen nicht Kampfpiloten zu verabreichen, damit sie länger Bomben werfen können, sondern Schüler zu bevorzugen: Die könnten auf diese Weise eine andere und bessere Realität erfahren.
Bild: IFK
Marcus Hahn
science.ORF.at: Sie trinken beim Interview Kaffee, haben Sie noch Erfahrungen mit anderen Drogen?

Marcus Hahn: Fast wie Benn so gut wie keine. Ich habe über 17 Jahre lang geraucht und bin froh, dass ich aufgehört habe. Zu einem guten schottischen Whisky sage ich nicht Nein und wie der amtierende US-Präsident habe ich auch einmal Haschisch probiert. Das war aber eine sehr schlechte Erfahrung.

Wie war das bei Benn?

Man hat ihm unterstellt, dass er viel geschluckt hat. Belegbar ist aber nur eine einzige Episode mit Kokain während des Ersten Weltkriegs. Er hat als Arzt sicher auch Zugang zu Schlafmitteln gehabt und sie auch genutzt, aber ansonsten waren es bei ihm nur Zigaretten und Kaffee in rauen Mengen. Anders als bei anderen Autoren: Denken Sie an Ernst Jüngers "Annäherungen". Er hat dabei eine echte Testreihe durchgeführt und von Äther über Meskalin bis LSD alles genommen und beschrieben. Oder Walter Benjamins "Über Haschisch".
Meskalin und LSD wurden in den 60er Jahren gerne von den Hippies verwendet, also von politisch linken Gruppierungen im weitesten Sinn. Woher kommt die Faszination für die gleichen Stoffe für Nazis nahestehenden Autoren wie Benn oder Jünger?

Rechts-links-Unterscheidungen helfen oft nicht wirklich weiter. Es geht um die Suche nach ekstatischen Erfahrungen, die in den 1920er und 1930er Jahren vielleicht eher von rechts besetzten Erlebnissen bedient werden konnten: Jüngers Konzeptualisierung des Ersten Weltkriegs, bei Benn war es 1933 der Traum des Aufgehens im ekstatisch erfahrenen Kollektiv. Man macht einen Fehler, wenn man die politische Rechte ausschließlich auf den kommandierten Körper beschränkt, man verkennt ihr messianisches Potenzial, das sie mobilisieren konnte. Andernfalls sind die Bilder von Hitlerempfängen mit ihren Menschentrauben und eindeutigen Zeichen rauschhafter Entrückung nicht zu erklären.
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Vortrag in Wien
Marcus Hahn hält am 18. Mai, 18 Uhr c.t. den Vortrag "'Lass mich blühen'. Gottfried Benn und das Wissen der Trance".
Ort: Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Bild: dpa
Gottfried Benn
Benn hatte wenig eigene Erfahrungen, wie kam er zu seiner Beschäftigung mit Drogen?

Durch Lektüre. In den 1950er Jahren hat er das Gedicht "Reisen" geschrieben: "Meinen Sie Zürich zum Beispiel / sei eine tiefere Stadt, / wo man Wunder und Weihen / immer als Inhalt hat?" Gemeint ist: Man muss dort nicht hinfahren, man kann das auch lesen. Das gilt auch für Drogen.

Benn hat viele Wissenschaftsbücher gelesen, sein Drogenwissen stammt aus zwei Büchern: "Phantastica" von Louis Lewin über alle Arten bewusstseinsverändernder Drogen und "Der Meskalinrausch" von Kurt Beringer. In den 1920er Jahren hat die Psychiatrie nach Substanzen für ihre Therapien gesucht, eine davon war Meskalin, die synthetische Variante einer ursprünglich aus Mexiko stammenden Droge aus Kakteen: Peyote. Meskalin galt als Weg, um künstlich psychotische Zustände herzustellen.

Beringer hat in seiner Versuchsreihe 60 Personen Meskalin verabreicht und sie aufgefordert, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Das Besondere an Meskalin ist, dass es die Introspektionsfähigkeiten intakt lässt und damit das Protokollieren ermöglicht - im Gegensatz zu vielen anderen Drogen. Benn liest Beringers Text und montiert daraus seinen eigenen Text.
Inwiefern ist der Meskalintext in Benns Werk eingeflossen?

Die bekanntesten Stellen finden sich in seinem Essay "Provoziertes Leben", geschrieben 1943 während der Berliner Bombennächte. Sechs Wochen zuvor hatte Goebbels den "Totalen Krieg" ausgerufen, der Text war der Versuch, dem eine Flucht nach Innen entgegenzusetzen. Krieg und Drogen waren oft gekoppelt: Heroin zum Beispiel heißt so, weil man es Soldaten vor Offensiven gegeben hat, damit sie zu Heroen werden etc.

Benn behauptet in "Provoziertes Leben" nun polemisch, man solle diese Substanzen nicht Bomberpiloten verabreichen, damit sie länger fliegen können, sondern lieber Schülern, damit diese auch etwas anderes zu Gesicht bekommen als diese blöde europäische Realität. Man solle, schreibt er, Stunden für Injektionstechnik an den Schulen abhalten, um bei den Leuten Zerebraloszillationen zu erzeugen. Benn glaubte, dass man damit die abendländische Fixierung auf List, Tücke und Wirklichkeit durchbrechen könnte. Das war ein Schubladentext - Benn unterlag seit 1938 einem Schreibverbot -, der einerseits sehr romantisch und ästhetizistisch ist, andererseits ein Maximum an Regimekritik bedeutet.
Welche Rolle spielten Drogen ganz allgemein für Benns Literatur und Dichtkunst?

Um 1930 bildet sich bei Benn ein Erklärungsmuster: Es setzt bei der Topologie des menschlichen Hirns an, mit der Unterscheidung von Großhirnrinde, die angeblich für die rationalen Aufgaben zuständig ist, und dem älteren, darunterliegenden Stammhirn, wo die Affekte liegen. Der Dichter, so Benns Vorstellung, steigt in Zuständen großer Müdigkeit, im Traum oder auch in durch Drogen provozierten Zuständen aus der Rationalität herab und trifft im Stammhirn - so wie bei Jungs kollektivem Unbewussten - auf die Mythen der angeblich primitiven Völker. Und daraus schöpft der Dichter seine Bilder.

Das ist quasi ein Versuch mit den Mitteln der Wissenschaft der Zeit auf ein linkes Literaturverständnis zu reagieren, wonach Literatur einen Beitrag zum Sieg der Weltrevolution leisten solle. Benn versteht das als Zurichtung der Literatur, als Verpflichtung des Schriftstellers auf Geschichte, Politik, letztlich auf Wissenschaft. Und genau das will er nicht.
Was hält Benn dem entgegen?

Er versucht paradoxerweise, die Dichtung mit den Mitteln der Wissenschaft zu verteidigen. Es gibt einen Text Benns aus dem Jahr 1910, wo gefragt wird, ob es heute notwendig ist, Physik, Chemie und Medizin studiert zu haben, um ein Gedicht zu schreiben. Das zeigt das Kernproblem, wie es Benn empfindet: Wo ist der Ort der Literatur in einer Kultur, in der die gesamte Definitionsmacht von Dichter und Priester auf den Wissenschaftler übergegangen ist? Und welche Textformen sind dann gefragt?

Benn reagiert auf eine relativ harmlose Literaturbesprechung von Otto Flake sehr vehement. Flake meinte, der Roman sei die Kunstform der Zeit und der Vers nur noch ein archaisches Mittel. Benn geht da als Lyriker an die Decke und sagt: Ja, das ist archaisch, aber man kann nur aus dem Archaischen zur Dichtung kommen und Dauerhaftes erzeugen.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 15.5.09
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Marcus Hahn ist Literatur- und Medienwissenschafter an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur im 19./20. Jahrhundert, Literatur- und Medientheorie, Wissenschaftsgeschichte, Kulturanthropologie. Zurzeit ist er Research Fellow am IFK Wien.
->   Marcus Hahn, IFK
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->   Gottfried Benn (Wikipedia)
 
 
 
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01.01.2010