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Bildungsbürgerliche Wegweiser für das Konzert
Programmhefte und Opernführer
 
  Sie sind vor rund 100 Jahren entstanden: Opern- und Konzertführer, die zwischen Publikum und Werk der Komponisten vermitteln. In der Musikwissenschaft waren sie bisher ein nur selten untersuchter Gegenstand.  
Der Musiktheoretiker Christian Thorau hat das nun geändert. Er hält diese Führer für wichtige Quellen der Geschichte des musikalischen Hörens.

Programmhefte, Konzert- und Opernführer hatten und haben eine zentrale Rolle als Vermittler eines bildungsbürgerlichen Wissens, das die Hörerfahrung unmittelbar beeinflusst, schreibt er in einem Gastbeitrag.
Konzert- und Opernführer als kulturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand
Von Christian Thorau

Heute sind sie ein selbstverständliches Begleitmedium des anspruchsvollen Musikhörens: das Booklet zur CD, das Programmheft zum Konzert- oder Opernabend, der Musikführer im Bücherschrank. Und jüngst erlebten die Führer durch die klassische Musik wieder einen kommerziellen Boom.

Der Bildungspapst Dieter Schwanitz z.B. erläuterte uns seinen Kanon der wichtigsten Werke samt der Aufnahmen auf zehn CDs: "Alles, was man hören muss." Auch wenn sich viele professionelle Musiker vielleicht über dieses Geschäft mit musikalischem Wissen erhaben fühlen, für Laien haben diese Produkte eine wichtige Orientierungsfunktion.

Sie ordnen das Gehörte ein, stellen es in einen geschichtlichen Kontext und befriedigen das Bedürfnis nach Hintergrundwissen, und zwar über das, was einen beim Hören fasziniert. Zugleich erzeugen die Musikführer aber auch jenen Bildungszwang, von dem sie leben: "Alles, was man hören muss."
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Vortrag in Wien
Christian Thorau hält am Montag, 25. Mai, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Reiseführer durch den Konzertsaal. Werkerläuterungen und touristisches Hören in der bürgerlichen Musikrezeption".
Ort: Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Eine wissenschaftlich ignorierte Textgattung
Bild: Christian Thorau
Der Musikführer Nr. 58, Leipzig 1896
Als ich vor einigen Jahren anfing, mich mit dieser Art von Musikliteratur zu beschäftigen, winkten einige Kollegen ab: Solche Texte seien doch wohl eher trivial und ohne musikwissenschaftlichen Wert. Es war für mich überraschend, dass in der relativ gut erforschten Kommunikationskette der westlichen Musikkultur, die Komponisten, Musiker, Werke, Medien, Orte und Institutionen umfasst, dieser unmittelbare Vermittler zwischen Werk und Publikum bis heute nur selten untersucht wurde.

Dabei sind diese Texte sowohl historisch als auch aktuell gesehen interessant. Zum einen bilden sie wichtige Quellen für eine Geschichte des musikalischen Hörens, für die Beantwortung der Frage also, wie sich Musikhören entwickelt und gewandelt hat. Programmhefte, Konzert- und Opernführer hatten und haben eine zentrale Rolle als Vermittler eines kulturellen Bildungswissens, das die Hörerfahrung unmittelbar beeinflusst.

Zum anderen ist die Diskussion, wie anspruchsvolle und zugleich ansprechende Vermittlungsformate für klassische Musik aussehen sollen, heute wieder in vollem Gange, in einer Zeit, in der sich das Musikhören verändert und Symphonieorchester und Opernhäuser um ihr Publikum kämpfen.

Konzert- und Musiktheaterpädagogik ist gefragt und wird in neuen Studiengängen und Projekten professionalisiert. Fundiertes musikhistorisches Wissen über diesen Vermittlungsbereich haben wir allerdings wenig. Das liegt nicht zuletzt an der wissenschaftlichen Zurückhaltung dem Phänomen gegenüber. Über seine Entstehungskontexte wissen wir fast nichts.
Anfänge vor gut 100 Jahren
Seit wann erhalten Programmzettel durch erläuternde Zusätze eine bildende Funktion? Wie und warum entstanden die ersten Konzertführer? Wie verändert sich das Musikhören, wenn es durch Texte vorbereitet und begleitet wird, die analysieren, poetisieren und werten?

Unbestreitbar ist, dass der erste Konzertführer nicht viel älter als 100 Jahre ist, er erschien als Führer durch den Konzertsaal 1887 in Leipzig, verfasst von dem Dirigenten und Musikforscher Hermann Kretzschmar. Kommentierte Programmhefte eingeführt hatten allerdings bereits englische Konzertveranstalter in London zwischen 1840 und 1850.

Und ebenso deutlich ist, dass noch zu Beethovens Zeit die Programmzettel sehr ungenau und wenig standardisiert waren. "Sinfonia von Haydn" oder "neue Sinfonie " wird da angekündigt, ohne Erläuterungen und Satzangaben. Dass zu einem Werk ein bestimmtes Bildungswissen gehört und dass man mithilfe eines beschreibenden Textes durch die Musik geführt wird, war den Hörern Beethovens noch fremd.
Popularisiertes Wissen
In den vergangenen zwei Jahrzehnten gingen von den Kulturwissenschaften wichtige Impulse aus, nicht nur wissenschaftliches Wissen, sondern auch dessen popularisierte Formen in den Blick zu nehmen. Tut man dies, so eröffnen sich im Falle von Musik faszinierende Perspektiven, die einerseits nah an die Klänge und andererseits weit in die Kulturgeschichte führen.

Denn die ersten kommentierten Programmhefte entstanden zur gleichen Zeit wie die Kunst- und Reiseführer. Der Wiener Kritiker Eduard Hanslick bezeichnete sie spöttisch sogar als "musikalische Baedeker" und die Konzertgänger als "musikalische Touristen".
Das musikalische Hören als Reise
Ein Ziel des Forschungsprojektes besteht darin, das bildliche Modell des musikalischen Hörens als Reise genauer zu untersuchen. Denn Reise-, Kunst- und Konzertführer haben überraschend viele Gemeinsamkeiten.

Man kann auf Felix Mendelssohn Bartholdy verweisen, der Goethes Italienische Reise als Begleiter im Gepäck hatte, als er in den Süden fuhr und 1830 aus Rom schrieb: "Nach dem Frühstück geht es an's Komponieren, und da spiele und singe und componire ich denn bis gegen Mittag. Dann liegt mir das ganze unermeßliche Rom wie eine Aufgabe zum Geniessen vor; ich gehe dabei sehr langsam zu Werke, und wähle mir täglich etwas Andres, Weltgeschichtliches aus".
Bildungsbürgerliches "Alter Ego"
Jene Aufgaben zum Genießen zu stellen, verbindet die Reise-, Kunst- und Musikführerliteratur bis in die heutige Zeit und macht sie zu einem typisch bürgerlichen Medium kultureller Bildung. Als Anleitungen zum Verstehen legen sie das Pflichtpensum eines gebildeten Rezipienten fest, strukturieren es und erweitern, im gelingenden Falle, seinen Horizont.

Sie begleiten die Leser, Hörer und Reisenden und zwar als bildungsbürgerliches "Alter Ego", als zweites Ich und als gleichgesinnter Gefährte. Die Ortbestimmung im geographischen oder im musikalischen Raum, die Markierung und Erklärung der Sehens- bzw. der Hörenswürdigkeiten auf dem Weg verspricht Sicherheit - vor den Gefahren der Reise, vor der Begegnung mit dem ästhetisch Fremden und Neuen, vor den Wissenslücken im Gespräch mit Mitreisenden, sowie vor den Unwägbarkeiten des Kunsterlebnisses.

Nach Abschluss der Reise dienen die Bücher und Hefte als Souvenir des ästhetisch oder touristisch Erlebten. Ob man solchen Funktionen von Erläuterungstexten skeptisch gegenübersteht oder nicht, scheint hier weniger von Belang. Zu verstehen, in welchen kulturellen Zusammenhängen sich das Hören klassischer Musik ausgebildet hat, hilft dabei, künstlerisch und pädagogisch zu gestalten, wohin es sich in Zukunft entwickelt.

[25.5.09]
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Über den Autor
Christian Thorau ist Musikwissenschaftler und Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (HfMDK). 2001-2002 war er Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Harvard Universität, 2003/04 Gastprofessor für Musikwissenschaft an der UdK Berlin. 2008/2009 war er William J. Bouwsma Fellow am National Humanities Center, North Carolina (USA) und ist zurzeit Senior Fellow am IFK.
->   Christian Thorau, IFK
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->   Christian Thorau, HfMDK
 
 
 
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01.01.2010