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Altruistische Krieger mit Kultur  
  Die Demografie war entscheidend für die frühe kulturelle und soziale Entwicklung des Homo sapiens, zeigen zwei aktuelle Studien: Große Gruppen und hohe Bevölkerungsdichten ließen die Kultur der Menschen in der Steinzeit aufblühen. Gleichzeitig förderten Kriege zwischen Jägern und Sammlern offenbar altruistisches Verhalten.  
Kontakt fördert Kultur
Vor 45.000 Jahren war in Europa nicht gerade viel los. Nur zirka 3.000 Menschen sollen damals den Kontinent bewohnt haben. Selbst wenn sich das Leben vor allem in den dafür beschaulichsten und angenehmsten Gebieten abgespielt haben dürfte, war die Bevölkerungsdichte damit eher gering.

Wenn sich die modernen Menschen (Homo sapiens) damals dennoch über den Weg gelaufen sind, haben sie sich nicht nur bekriegt, sondern auch ihre Kultur ausgetauscht. Und diese blühte mit dem Homo sapiens regelrecht auf: Man stellte abstrakte Kunst her, musizierte auf Instrumenten, tätowierte und schmückte sich, verbesserte Stein- und andere Werkzeuge und transportierte Rohstoffe über große Entfernungen.

Wenn sich viele Menschen zu einer Gruppe zusammentaten, half dies offenbar der Kultur auf die Sprünge, wie Wissenschaftler um Adam Powell vom University College London in der Fachzeitschrift "Science" schreiben (Bd. 324, S. 1298). Je größer eine Gruppe und je dichter die Besiedelung, umso intensiver war der Austausch zwischen einzelnen Menschen, sie wurden kreativer und erfanden neue Geräte und kulturelle Ausdrucksformen.
Musenkuss Migration
Kleine Gruppen waren doppelt benachteiligt: Bei ihnen entstanden kulturelle Errungenschaften nicht nur langsamer, sie gerieten zudem schneller in Vergessenheit, weil sie nicht weitergegeben werden konnten. Kulturelle Fähigkeiten dürften aber nicht nur eine Folge der Bevölkerungsdichte gewesen sein. Da sie für die Gemeinschaft vorteilhaft sind, haben sie ihrerseits auch die Bevölkerungsdichte erhöht.

Neben der Populationsgröße förderte auch die Migration die Kultur. Neue Fertigkeiten lernen Menschen nämlich nicht nur in der Gruppe, sondern auch durch den Kontakt zu anderen. Zum Erlernen komplexer Fähigkeiten bringt interkultureller Austausch sogar mehr als eine hohe Bevölkerungsdichte.
Fortschritt mit Zeitverzögerung
Viele kulturelle Errungenschaften entstanden zwar mit dem Homo sapiens, allerdings mit zeitlicher Verzögerung. In Afrika lebt der moderne Mensch seit 160.000 bis 200.000 Jahren. Der Sprung zu neuen kulturellen Ausdrucksformen erfolgte aber erst 100.000 Jahre später: im südlichen Afrika vor 90.000 Jahren; im westlichen Eurasien vor 45.000 Jahren. Biologische und kognitive Ursachen alleine können die kulturellen Leistungen daher nicht erklären.

Dass die Demographie neue Techniken, soziale Organisation, kulturellen Wandel und Sprache im Jungpaläolithikum beeinflusst hat, ist nicht neu. Powell und seine Kollegen haben für ihre Arbeit ein bestehendes Modell um komplexere Gruppenstrukturen und Lernmechanismen sowie um Migration erweitert. Um die Bevölkerungsgrößen in der Steinzeit analysieren zu können, stützten sich die Forscher auf Daten von mitochondrialer DNA des Homo sapiens. Demzufolge haben vor 45.000 Jahren weniger als 100.000 Menschen auf der Erde gelebt.
Krieg und Klima
Trotz aller Kultur hatten die Menschen damals stark mit der Natur zu kämpfen. In der späten Altsteinzeit brachten Klimaänderungen das Leben immer wieder durcheinander. Ihrer Nahrung beraubt brachen die Menschen in andere Gebiete auf, begegneten fremden Gruppen und kämpften mit diesem um den Lebensraum.

Krieg und Gewalt dürften neben Tod und Leid aber auch eine soziale Errungenschaft mit sich gebracht haben: den Altruismus. Wer bereit ist, im Kampf das eigene Leben für Angehörige der Gruppe zu opfern, sichert deren Überleben, wie Samuel Bowles vom Santa Fe Institute mit einem Modell berechnet hat ("Science", Bd. 324, S. 1293).
Jeder Siebente starb durch Gewalt
 
Nathalie Cary of Science/AAAS

Bild oben: Landkarte der in der Studie ausgewerteten archäologischen und anthropologischen Nachweise von Krieg bei Jägern und Sammlern.

Bowles verglich archäologische und anthropologische Studien von Jägern und Sammlern für den Zeitraum von der späten Altsteinzeit bis zur Gegenwart. Demnach starb jeder Siebente im Kampf. Die Unterschiede zwischen den Gruppen sind groß: Bei manchen töteten Gewaltausbrüche nur wenige Prozent der Gruppenmitglieder, bei anderen fast die Hälfte.

Diese gewaltreiche Atmosphäre könnte Bowles zufolge die kulturelle Evolution und möglicherweise auch eine genetisch bedingte Anlage zum Altruismus gefördert haben.
Zwei Erklärungen unter vielen
Beide Texte zeigen ein ambivalentes Bild, wie die Anthropologin Ruth Mace vom University College London in einem Kommentar in "Science" schreibt (Bd. 324, S. 1280): Haben die frühen Menschen den Austausch mit anderen Gruppen gesucht, um die eigene Kultur zu bereichern, oder waren sie daran nicht interessiert und damit beschäftigt, andere Gruppen auszurotten? Oder haben sie zuerst die anderen besiegt und dann deren Errungenschaften übernommen?

Mace zufolge erhebt keines der Modelle den Anspruch, die frühe Entwicklung des Menschen eindeutig zu erklären. Beide Ansätze ergäben aber mit vielen weiteren eine Liste an Möglichkeiten, die ernst genommen werden sollten.

Mark Hammer, science.ORF.at, 5.6.09
->   Adam Powell
->   Samuel Bowles
->   Ruth Mace
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01.01.2010