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Charles Taylor - Ein Porträt  
  Der kanadische Philosoph Charles Taylor zählt zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Der ausgezeichnete Kenner der Philosophiegeschichte hat umfangreiche Studien zur Sprachphilosophie, zur politischen Philosophie und zur Entstehung der neuzeitlichen Identität vorgelegt. Zurzeit hält sich Taylor in Wien auf, wo er am Institut für die Wissenschaften vom Menschen ein Forschungsprojekt über die Religion und die Säkularisierung vorstellt.  
Gegen den hemmungslosen Individualismus
"Die Idee, dass das Individuum ganz neu den Sinn seines Lebens erfindet, ohne den Anderen, ohne die Gesellschaft und ohne Religion - das ist meiner Ansicht nach eine Illusion". So lautet der Ausgangspunkt der philosophischen Reflexion von Taylor. Er ist davon überzeugt, dass der radikale Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung um jeden Preis das Hauptübel der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften darstellt.

Der tiefgreifende Egoismus, der sich besonders in der hemmungslosen Gier nach Profitmaximierung artikuliert, ist seiner Ansicht nach für die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Problemen verantwortlich.
Einbindung in die Lebenswelt
Der Glaube an einen Individualismus ist für Taylor reine Illusion. Der Mensch ist immer schon in eine Lebenswelt eingebunden, die von sozialen Bindungen bestimmt wird; allein die sprachliche Kommunikation ist ohne die Anderen nicht vorstellbar. Dazu kommen noch die familiäre Verwurzelung, soziale Kontakte und religiöse Erfahrungen, die das Leben des Einzelnen beeinflussen. Eine Reduktion dieser empirischen Faktoren, wie sie etwa in der Phänomenologie Husserls erfolgte, kann der Sozialphilosoph Taylor nicht nachvollziehen.
Biografie I
Der am 5. November 1931 in Montréal geborene Philosoph entfaltete als Sohn eines englischsprachigen Vaters und einer französischsprachigen Mutter schon in Jugendjahren eine besondere Sensibilität für den Zusammenhang von sprachlicher, kultureller und politischer Identität. Taylor ging nach Oxford, wo er bei dem Ideenhistoriker Isaiah Berlin Philosophie studierte.

Beeindruckt war Taylor vor allem vom Anspruch des 1909 in Riga geborenen Gelehrten, die Geschichte der Ideen nicht als trockenes, abstraktes Studium zu verstehen, sondern als ein Projekt, das große Leidenschaft erfordert. Diese Aufforderung zu einer umfassenden Aneignung der Ideengeschichte hat die Entfaltung von Taylors philosophischen Arbeiten entscheidend geprägt.
Biografie II
Durch Berlin lernte er die deutsche Philosophie genauer kennen. Wichtig waren für ihn die Lektüre von Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt und Georg Wilhelm Friedrich Hegel.

Nach einer Tätigkeit als akademischer Lehrer in Oxford kehrte Taylor nach Montréal zurück, wo er an der McGill University politische Philosophie lehrte. Außerdem befasste er sich intensiv mit kanadischer Politik, wobei sein Ziel eine Verständigung der anglophonen und frankophonen Kultur war.
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Vortrag
Am 9. Juni hält Charles Taylor um 18 Uhr einen Vortrag mit dem Titel "Master Narratives of Secularity" am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien.
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Vielschichtige Identität
"Einen inneren Dialog mit den verschiedensten Kulturen philosophischen Denkens zu führen", um in der Konfrontation mit anderen philosophischen Strömungen eigene Positionen zu erarbeiten - so lautet der Anspruch von Taylor. Nach jahrelangen Studien legte er 1989 das über 900 Seiten umfassende Werk "Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität" vor.

Darin entwickelte er eine Strategie, die dem allgemeinen Trend, die Selbstverwirklichung des Individuums als höchstes Gut zu erklären, entgegenwirken sollte. Die menschliche Identitätsbildung wurde dabei als ein Prozess beschrieben, sich in einem Netz von philosophischen, religiösen und politischen Komponenten zu orientieren.
Vorrang der Gemeinschaft
Der Kult der Selbstverwirklichung fand auch auf politischem Gebiet seinen Ausdruck; es war vor allem die liberale Gesellschaftsordnung, in der die vermeintlichen Rechte des Bürgers auf Selbstverwirklichung verteidigt wurden.

Dagegen stellte Taylor das Konzept des sogenannten Kommunitarismus, das den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betont. Dabei ist die aktive Beteiligung des Staatsbürgers gefragt, der seine eigenen Interessen zurückstellt und sich für das Allgemeinwohl engagiert. Dieses Engagement sollte laut Taylor in einer "Schule der Demokratie" erlernt werden.
Wiederkehr der Religion
In den letzten Jahren befasste sich Taylor intensiv mit Fragen der christlichen Religion. Damit befand er sich in guter Gesellschaft. Nachdem die Religion lange Zeit als obsolet erklärt wurde, entdeckten Philosophen wie Jürgen Habermas, Hilary Putnam und Gianni Vattimo die Bedeutung der Religion. Sie war nicht mehr das "Opium des Volks"; vielmehr barg sie eine Qualität, die im stahlharten Gehäuse der kapitalistischen Gesellschaften verloren gegangen war; nämlich "die Liebe zum Menschen, so wie er ist, mit allen Fehlern und Schwächen" (Taylor).

Diese Solidarität mit dem schwachen Menschen ist - so Taylor im Gespräch mit science.ORF.at - speziell in der gegenwärtigen Situation, die von "neuer Armut" und gnadenloser Härte gegenüber Asylanten geprägt ist, ein besonderer Vorteil der Religion.
Ein säkulares Zeitalter
Die Wiederkehr der Religion in einem Zeitalter, das sich weitgehend als säkular begreift, ist das Thema eines umfangreichen Buches, das im Oktober im Suhrkamp Verlag unter dem Titel "Ein säkulares Zeitalter" erscheinen soll. Mit Säkularisierung ist der Ablösungsprozess von der christlichen Religion gemeint. Der von der Religion geprägte Wertekanon, der Jahrhunderte gültig war, verlor an Bedeutung. In den Mittelpunkt rückte das menschliche Subjekt, das allein für sein Handeln verantwortlich ist.
Ambivalente Reaktionen
Der Säkularisierungsprozess wurde häufig als Verfallsgeschichte, als Niedergang der Religion interpretiert. Taylor spricht von einer Subtraktionstheorie, von einer Geschichte, "in der der Unglaube nach dem Verlust des Glaubens kam". Die Reaktion darauf war ambivalent: Einerseits empfand man diesen Prozess als Befreiung und als einzigartige Möglichkeit, sich von den Ketten der religiösen Dogmen zu befreien, andererseits beklagte man den Verlust der religiösen Werte und befürchtete den Zustand einer allgemeinen sittlichen Anarchie.
Dialektik der Säkularisierung
Im Gespräch mit science.ORF.at betont Taylor seine ablehnende Haltung gegenüber den beiden Formen der Subtraktionstheorie. Er ist vielmehr davon überzeugt, dass die Säkularisierung dazu geführt habe, einen Pluralismus zu etablieren, in dem verschiedene Lebens-und Glaubensformen gleichberechtigt existieren.

Neben atheistischen oder agnostischen Auffassungen ist "ein immer verzweigterer, spiritueller Pluralismus" zu beobachten, sowohl innerhalb des Christentums als auch außerhalb. "Das schließt natürlich aus", meint Taylor, "dass eine Religion die Oberhand über die Gesellschaft hat; es ist aber auch gewährleistet, dass nicht eine säkular -laizistische Philosophie an die Macht kommt, die die Religion ausschließt".

Eine Gesellschaft, die sich bereit erklärt, die Gleichberechtigung verschiedener Leben - und Glaubensformen anzuerkennen, wäre nach Taylor der wahre Zweck der Säkularisierung. "Solch eine Gesellschaft ist vielleicht eine der besten, die jemals in der Geschichte der Menschheit erfunden wurde."

Nikolaus Halmer, 8.6.09
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Literaturtipps
Ingeborg Breuer: Charles Taylor zur Einführung, Junius Verlag
Folgende Werke von Charles Taylor sind im Suhrkamp Verlag erschienen:
Hegel, stw 416; Negative Freiheit? stw 1027; Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, stw 1233; Ein säkulares Zeitalter, vom Verlag für September 2009 angekündigt
->   Mehr zu Taylor bei Suhrkamp
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->   Charles Taylor
->   Charles Taylor - Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010