News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Wie entsteht Wahrheit in der Wissenschaft?
Die Forschung entdeckt Ludwik Fleck
 
  Ein weitgehend unbekannter Mikrobiologe namens Ludwik Fleck schrieb im Polen des Jahres 1934 ein Buch mit theoretischen Betrachtungen darüber, wie man in der Wissenschaft zu Erkenntnissen kommt. Das Buch war lange Zeit nicht erhältlich und geriet in Vergessenheit. Wissenschaftsforscher betrachten den Text heute als revolutionär und wegweisend.  
Was so besonders an Ludwik Fleck und seinem wiederentdeckten Schaffen ist, hat die Tagung "Schauplätze der Evidenz. Ludwik Fleck und die Kulturwissenschaften" am IFK Wien analysiert. Im Rahmen des Symposions traf science.ORF.at die beiden Initiatoren Johannes Fehr, Philologe und Leiter des Ludwik Fleck Zentrums in Zürich, und Michael Hagner, Wissenschaftsforscher an der ETH Zürich, zum Gespräch.
science.ORF.at: Exzentrischer Naturwissenschaftler, interdisziplinärer Vorreiter - wer war Ludwik Fleck?

Johannes Fehr: Zum einen war er ein Mikrobiologe, der, 1896 geboren, in Lemberg groß wurde und auch arbeitete, aber auch ein Wissenschaftstheoretiker, dessen Einsichten zu Lebzeiten eher ignoriert blieben. In den 50er Jahren wurde er jedoch Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Später lebte er in Israel, wo er 1961 starb.
Auf der anderen Seite war er aber auch ein Grenzgänger, er bewegte sich im Bereich von Galizien und wurde zwischen zwei Kulturen groß, nämlich der Deutschen und der Polnischen - er sprach auch beide Sprachen. Dann lebte er im Lemberger Ghetto und machte schreckliche Erfahrungen als KZ-Häftling in der NS-Zeit.

Michael Hagner: Insofern war er ein exzentrischer Mediziner, denn Lemberg, das im neu geschaffenen Polen dann Lwów hieß, war weit entfernt von den wissenschaftlichen Zentren seiner Zeit, Paris, Berlin und Wien. Ansonsten war er ein ganz normaler Wissenschaftler, der nicht genial war, und auf seinem Gebiet Forschung betrieben hat, wie es zu seiner Zeit üblich war. Das besondere sind seine theoretischen Artikel, in denen er sich über die Natur wissenschaftlicher Arbeit und Erkenntnis Gedanken gemacht hat. Und das 1934 daraus entstandene Buch ist für unser Gebiet, die Wissenschaftsforschung, so etwas wie ein Jahrhundertwerk.
Das Werk von Fleck ist denkbar klein. Es besteht eigentlich nur aus dem Buch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Dennoch gilt der Text heute als wegweisend. Wie lassen sich seine Theorien in Kürze zusammenfassen?

Fehr: Fleck hat durchaus sehr viel in seinem Fachbereich publiziert. In der Tat ist sein wissenschaftstheoretisches Werk schmal. Das faszinierende hierbei ist schon allein die Sprache. Fleck schreibt nämlich gar nicht unbedingt akademisch, sondern in einer sehr klaren, einfachen Sprache. Seine These ist, dass das, was wir wissen, niemals vollständig ist. Das heißt, Erkenntnis und wissenschaftliche Arbeit ist ständig im Wandel begriffen, ist immer etwas Prozessuales. Und auch unsere Begriffe von Wahrheit sind vorläufig oder unfertig.

Hagner: Fleck behauptet, dass die Erkenntnis, die man produziert, eine Art von sozialer Aktivität ist. Das heißt, er geht her und macht Wissenschaft zu einer menschlichen Tätigkeit. Wir Menschen versuchen etwas herauszufinden, wissen erst einmal gar nicht, was wir tun sollen und müssen dann bei der Beobachtung oder im Experiment bestimmte Dinge tun, damit wir zu dieser Erkenntnis kommen können. Diesen Prozess versucht Fleck zu beschreiben. Er stellt Wissenschaft als soziales Phänomen dar.
In diesem Zusammenhang denkt man auch an Thomas Kuhn mit seiner Theorie der Paradigmenwechsel. Inwiefern hat Kuhn bei Fleck abgeschrieben?

Fehr: In gewisser Weise gesteht Kuhn das ja in einer Fußnote seines ersten Buches ein. Fleck hat ihn beeinflusst und die Grundideen sind sich ähnlich. Aber vieles von Fleck geht bei Kuhn verloren, die Fleck'schen Theorien sind komplexer.

Hagner: Abschreiben würde ich so nicht sagen. Kuhns Theorie ist auf einer anderen Etage. Mit Kuhns Referenz setzt das Fachinteresse an Fleck ab den 60er Jahren ein. Doch man kann seine Paradigmenwechsel nicht direkt mit Flecks Theorie von der Änderung der Denkstile gleichsetzen. Der Paradigmenwechsel bei Kuhn ist ein ganz seltenes Ereignis. Er selbst nennt nur drei oder vier Beispiele, wie Kopernikus. Es ist ein Bruch. Der Begriff ist dann aufgeweicht worden.

Der Fleck'sche Begriff der Denkstilveränderung ist viel kleinräumiger. Für Fleck wäre es denkbar gewesen, dass innerhalb der damals 40jährigen Geschichte der Bakteriologie zweimal eine Denkstiländerung erfolgt. Fleck denkt von der Praxis aus, von der Kommunikation von Wissenschaftlern untereinander, während Kuhn ein Top-down Denker ist. Es geht ihm im Grunde um große theoretische Veränderungen und auf die Praxis hat er gar nicht so großen Wert gelegt.
Was kann man sich eigentlich unter einem Denkstil bei Fleck vorstellen?

Fehr: Ein Denkstil ist die fokussierte Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes. Das heißt, wie und auf was konzentriere ich mich. Wenn ich beispielsweise in ein Zimmer komme, was sehe ich zuerst? Sehe ich durchs Fenster oder sehe ich den Innenraum? Letztendlich geht es um Fachdisziplinen.

Hagner: So wie er von Fleck benutzt wird, ist der Begriff eine soziale oder kollektive Weise, mit einem bestimmten Wissenschaftsgegenstand umzugehen. Das ermöglicht es einer Gruppe von Wissenschaftlern überhaupt erst, miteinander zu reden. Dann gibt es auch den Begriff einer "Experimentalkultur".

Das ist nichts anderes, als dass eine bestimmte Art und Weise, ein experimentelles Design aufzubauen, eine gewisse lokale Eigenart hat. Das kann in Wien und Florenz unterschiedlich sein. Der Begriff ist also ein noch feinerer analytischer Begriff, um wissenschaftliche Praktiken zu beschreiben.
Pierre Duhem spricht in diesem Zusammenhang auch von nationalen akademischen Denkstilen. Kann man so eine Position auch heute noch vertreten?

Fehr: Aus meiner Erfahrung mit der Philologie kann ich das bestätigen. Französische Philologie ist etwas anderes als in Deutschland. Da kommen schon allein die sprachlichen Unterschiede zum Tragen. Es wäre aber meiner Meinung nach verfehlt, dies rassisch zu essenzialisieren.

Hagner: In den Naturwissenschaften halte ich es für nicht sinnvoll, mit dem Begriff der nationalen Stile zu argumentieren, denn die größere Anzahl von Axiomen, Theorien und Entdeckungen haben sich doch relativ schnell international durchgesetzt. Natürlich gibt es Unterschiede der Aufnahme und Weiterführung von Theorien in verschiedenen Ländern, nehmen sie beispielsweise den Darwinismus. Aber ob das dann ein nationaler Stil ist, halte ich für fraglich.
Das Schaffen von Wirklichkeit ist also ein rein soziales Phänomen. Wie kann man dieser Theorie historische Fakten entgegenstellen? Gerade im Hinblick Flecks eigener Geschichte als KZ-Häftling in Buchenwald.

Hagner: Fleck würde nicht bestreiten, dass es so etwas wie eine Wahrheit gibt. Er würde auch nicht behaupten, dass wir uns die Realität so zurechtformen können, wie wir das wollen und das dann produktive Medizin oder kreative Physik nennen könnten.
Er würde viel mehr behaupten, dass Wissenschaft ein Vorgang ist, der in Bewegung bleibt und demokratisch ist. Er lehnt Dogmen ab. Er wusste als Bakteriologe natürlich genau, dass etwa beim Mikroskopieren auch viele Fehlerquellen existieren.

Fehr: Es wäre falsch, Fleck als Konstruktivisten darzustellen. Man muss eher fragen, aus welchen Quellen bezieht man das Wissen über Fakten und dann ist die Frage, wie diese Quellen interpretiert werden.

Zur persönlichen Geschichte von Fleck muss man sagen, dass nicht klar ist, was genau er im KZ erlebt hat und wie es ihn beeinflusst hat. Sicher hat er um sein eigenes Leben und das seiner Familie gekämpft, und es ist sehr schwer hier eine Antwort zu finden.
Was macht nun Flecks Werk gerade so interessant für die Kulturwissenschaften?

Fehr: Das Spannende bei Fleck ist, das er eben nicht von einer Leitwissenschaft, deren Stil wegweisend für andere Wissenschaften ist, ausgeht, sondern eine Pluralität annimmt. Er steht damit beispielsweise im Gegensatz zum Wiener Kreis, der sich ja stark an der Physik orientiert hat.

Das ist genau für die oft schwierigeren Problemstellungen der Kulturwissenschaften von Nutzen. Ich denke da zum Beispiel an die Frage der Bilderforschung. Wie nähern wir uns Bildern wissenschaftlich und vor allem, wie drücken wir das dann sprachlich aus?

Hagner: Wir wollen der Frage nachgehen, inwieweit Flecks Theorie, die ja aus seiner Erfahrung als Bakteriologe hervorgeht, anwendbar und verschiebbar auf die Probleme der Kulturwissenschaften ist.

Für die Frage nach Konstruktion, Wirklichkeit und Formung von Realität und wie man dies in den Kulturwissenschaften neu denken kann, ist Fleck hervorragend geeignet. Insofern ist die schroffe Opposition von Realität und Konstruktion eigentlich gar nicht so hilfreich.

Interview: Tobias J. Körtner, science.ORF.at, 5.6.09
->   Ludwik Fleck Zentrum Zürich
->   Ludwik Fleck - Wikipedia
->   Internationales Forschungsinstitut für Kulturwissenschaften
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010